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Nutzpflanzen im Urwald

Von Roland Knauer

Wissen
Flüsse sind die mit Abstand wichtigsten Verkehrswege im Amazonasgebiet.
© Fotolia/buladeviagens

Menschen haben im Amazonas-Gebiet deutliche Spuren in der Pflanzenwelt hinterlassen.


Berlin. Die Luft steht feucht und schwer zwischen den mächtigen Baumstämmen, Gummistiefel quatschen durch den Morast des Pfades, der ein Stück weit in den sonst undurchdringlichen Amazonas-Wald führt. Schon nach ein paar Schritten wird jedem Besucher klar, wie schwierig es sein muss, in dem Dickicht zu leben. Bis auf ein paar Stämme, von denen einige noch heute jeden Kontakt mit dem Rest der Welt vermeiden, lebten in den letzten Jahrtausenden daher kaum Menschen im Amazonasgebiet. Zumindest glaubten Archäologen das lange.

Erst in jüngster Zeit fanden Forscher an wenigen Stellen Spuren früherer Siedlungen, die eine dichtere Besiedlung des Amazonasgebietes in der Zeit vor Christoph Kolumbus vermuten lassen. Diese Menschen aber scheinen bleibende Spuren in der Pflanzenwelt hinterlassen zu haben: Die von den Ureinwohnern genutzten Urwaldbäume prägen noch heute viele Regionen im Amazonasgebiet, berichtet ein Team um Carol Levis von der Uni Wageningen und Hans ter Steege vom Naturalis Naturgeschichtlichen Museum in den Niederlanden im Fachblatt "Science".

Nutzpflanzen dominieren

Das Amazonasgebiet scheint also deutlich weniger als bisher vermutet Urwald zu sein. Der Einfluss des Menschen sticht vielleicht nicht ins Auge, aber seit langem genutzte Bäume wie die Pfirsich-Palme und manchmal auch der Kakao-Baum dominieren vielerorts den Wald stärker als erwartet. Und das in einer Region mit einer extremen Pflanzenvielfalt, in der mehr als 16.000 Gehölzarten wachsen. In deutschen Forsten sind es ganze 51 Baumarten.

Diese Vielfalt studieren Forscher aus aller Welt in einem riesigen Netzwerk von 1170 Untersuchungsflächen, die sich über das gesamte Amazonasgebiet verteilen. Vor mehr als 8000 Jahren begannen Menschen, zunächst in den Randbereichen der Region, Pflanzen für ihre Zwecke zu nutzen. Mindestens 85 Gehölze lieferten nicht nur Nahrung, sondern auch eine Reihe verschiedener Materialien, berichten die Forscher.

20 dieser Nutzpflanzen aber prägen die Untersuchungsflächen fünfmal häufiger als die anderen fast 5000 gefundenen Arten, die von den Ureinwohnern nicht genutzt wurden. Je näher die untersuchten Flächen bei einer bekannten Fundstätte einer frühen Siedlung oder bei einem der Flüsse liegen, die dort häufig die einzigen und mit Abstand wichtigsten Verkehrswege sind, umso mehr Nutzpflanzen finden die Forscher dort. Bei den nicht von Menschen genutzten Pflanzen zeigen sich dagegen keinerlei Zusammenhänge mit den Relikten einstiger Orte.

Die Forscher fragen sich aber auch, wer zuerst da war, die Pflanzen oder die Menschen. Es könnte schließlich so sein, dass die Ureinwohner sich vor allem dort niederließen, wo von Natur aus besonders viele für sie praktische Pflanzen wuchsen.

Siedlung von vor 3000 Jahren

Während die frühen Siedler vermutlich andere, nicht genutzte Baumarten fällten und damit ihre Häuser bauten oder Holzkohle herstellten, ließen sie wichtige Bäume wie die Pfirsich-Palme stehen, um deren Früchte ernten zu können. Wanderten einige Menschen später weiter, züchteten sie anscheinend auch in der neuen Heimat solche nützlichen Bäumchen. Jedenfalls finden die Forscher auf manchen Flächen gleich sechs oder sieben von Menschen genutzte Baumarten, die natürlicherweise gar nicht an einem Ort gemeinsam vorkommen.

Und es gibt noch weitere Hinweise darauf, dass Menschen ihre Finger im Spiel hatten. Anscheinend wächst in der Region wirklich weniger Urwald als bisher vermutet. Archäologen wie Stéphen Rostain vom französischen Grundlagenforschungszentrum CNRS und vom französischen Institut für Anden-Studien in Ecuadors Hauptstadt Quito überrascht dieses Ergebnis nicht allzu sehr. Schließlich gräbt er mit Forscherkollegen aus den USA und Brasilien seit den 1980er Jahren immer wieder Überreste von Siedlungen aus, die beweisen, dass vor der Zeit von Kolumbus dort viel mehr Menschen lebten als bisher angenommen.

So wurden 2013 in Ecuador am Ost-Abhang der Anden eine gepflasterte Feuerstelle und die Reste eines Holzhauses entdeckt, das laut Radiocarbon-Methode vor 3000 Jahren dort stand. Des weiteren wurde am Oberlauf des Xingu-Flusses im Südosten des Amazonas-Gebietes das Siedlungsgebiet Kuhikugu gefunden, in dem vor 1500 Jahren vermutlich 50.000 Menschen lebten. Mindestens 20 Städte und Dörfer hatte diese Zivilisation in einem Gebiet von rund 20.000 Quadratkilometern und damit einer Fläche von der Größe des deutschen Bundeslandes Rheinland-Pfalz gebaut.

Hohe Palisaden schützten diese Orte, die mit bis zu 40 Meter breiten Straßen verbunden waren. Auf den Feldern entlang dieser Straßen wuchsen die Pflanzen, von denen die Menschen lebten. Viele der dort geernteten Nahrungsmittel sind auch heute noch sehr beliebt: Mais, Maniok und Ananas, Kakao und Süßkartoffeln, Paprika und Pfirsichpalm-Früchte.

Beliebte Erfindung Hängematte

Auch eine andere Erfindung der Siedler im Amazonasgebiet ist dort und an einigen anderen Orten noch immer sehr beliebt: Aus Pflanzenfasern flochten die Menschen Hängematten, in denen sie in sicherem Abstand vom Boden und den dort lebenden giftigen und anderweitig gefährlichen Tiere schlafen konnten. Auch das Blasrohr, aus dem man gut gezielt und nahezu lautlos vergiftete Pfeile auf Beute schießen konnte, erdachten die Menschen am Amazonas. An den Gewässern konstruierten sie mit Dämmen Engstellen, an denen sie Fische fingen. Oder sie züchteten diese gleich in eigenen Becken und hatten so bereits die Aquakultur entwickelt.

Ein weiteres Indiz für die Vielfalt der Bevölkerung sind die mehr als 300 Sprachen, die zu etwa 60 Sprachfamilien gehören, die noch heute von Ureinwohnern gesprochen werden. Forscher vermuten, dass es früher mehr als doppelt so viele Sprachen gab, in denen sich fünf bis sieben Millionen Menschen verständigten. Viele verschwanden, als bereits im 16. Jahrhundert von Europäern eingeschleppte Krankheiten bis zu 90 Prozent der einstigen Bevölkerung dahinrafften. Erst seither ist das Amazonasgebiet relativ dünn besiedelt. Die Spuren der früheren Bevölkerung aber leben nicht nur in der Pflanzenwelt weiter.