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Der gescheiterte Intellektuelle

Von Gerhard Strejcek

Wissen

US-Präsident Woodrow Wilson, der am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, verfügte über keine außenpolitische Erfahrung - und war auch innenpolitisch wenig erfolgreich.


Am 6. April 1917 erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg und beendeten damit offi-ziell eine Phase der Neutralität, die sie fast drei Jahre lang durchgehalten hatten. Gegenüber der k.u.k. Monarchie trat die schon damals militärisch bedeutendste Weltmacht erst im Dezember 1917 in den Krieg ein, da es abgesehen von Bündnisverpflichtungen keinen hinreichenden Grund oder Interessenkonflikt gab.

Zunächst hatten die Amerikaner nur 150.000 Soldaten unter Waffen, aber im Juni 1918 standen bereits eine Million der neu eingezogenen Armeeangehörigen in Europa und entschieden den Kampf an der Westfront. Für viele Deutsche, selbst für Demokraten in der Weimarer Republik, geriet Wilson zur Unperson. Als im Februar 1924 Staatstrauer nach dem Tod des Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers herrschte, wollte Gustav Stresemann den deutschen Botschafter in Washington anweisen, die Fahne nicht auf Halbmast zu setzen, was prompt zu einer Verstimmung führte.

Unperson in Deutschland

In den USA wegen seiner pazifistischen Züge, der Initiierung des (letztlich gescheiterten) Völkerbundgedankens und der Einführung des Frauenwahlrechts bis heute angesehen, blieb Wilson, der 1919 den vom Kongress nie ratifizierten Vertrag von Versailles unterfertigte, in deutschen Landen eine Unperson. Aus heutiger Sicht müssen er und seine Politik aber differenziert betrachtet werden. In wirtschaftlicher Hinsicht hatten sich die USA nie neutral im engeren Sinn verhalten.

Briten und Franzosen hatten seit dem Kriegsbeginn im August 1914 ihren Überseehandel intensiviert, Waffen, Rohstoffe und Nahrung importiert, Anleihen begeben und Exporterlöse aufgerechnet, wogegen die Mittelmächte keinen maßgeblichen Austausch mehr mit Wilsons Amerika pflegten. Valorisiert man die zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA im Weltkrieg umgesetzten Warenumsätze, so handelte es sich um ein Handelsvolumen von (heutigen) 156 Mrd. Euro.

Auch die militärische Neutralität stand auf schwachen Füßen, hätte diese doch ein Waffenembargo an alle kriegführenden Mächte begründen müssen. Doch Wilson pochte auf den Grundgedanken, dass auch in Kriegszeiten Handel mit Europa zulässig sein müsse, sofern die kriegführenden Partner theoretisch (aber nicht praktisch) gleich behandelt würden, was eine juristische Spitzfindigkeit war.

Besondere Empörung rief die Gegensätzlichkeit hervor, mit der Wilson bis 1917 sanfte Signale sandte und trotz Anerkennung des Prinzips nationaler Selbstbestimmung die Integrität der Mittelmächte anerkannte. Mehrfach tat er kund (lebte er heute, würde er wohl "twittern"), dass die Zerschlagung der k.u.k. Monarchie nicht im Interesse der USA stünde. Als Kriegsziel im Reich galt die Beendigung der militaristischen Herrschaft, aber weder das Ende der Hohenzollern noch die Demütigung der deutschen Bevölkerung. Doch es sollte anders kommen.

Der Wilson’sche Abgrund zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Politik zeigte sich auch in der amerikanischen Innenpolitik. Im Wahlkampf 1912 hatte der einstige Gouverneur mit vagen Aussagen die afroamerikanischen Wähler auf seine Seite gebracht, die sich von Wilson als "Gentleman" eine Phase der Gleichberechtigung erwarteten. Tatsächlich aber setzte der Präsident konsequent auf Rassentrennung in den Bundesbehörden.

Über Wilsons moralische Inte-grität kamen Zweifel auf, als er sich ein Jahr nach dem Verlust seiner Gattin Ellen Axson im August 1914 mitten im Krieg wieder verheiratete. Afroamerikanische Aktivisten empörten sich darüber, dass er sie nicht mehr empfangen wollte. In dieser Phase konnte eine Ablenkung auf außenpolitische Konflikte nutzbringend sein.

Der lange Schatten des Rassismus-Vorwurfs holte Wilson postum erst 2015 ein. Der 1856 in Virginia geborene Staatstheoretiker ("Constitutional Government") und historisch interessierte Gelehrte, der als junger Dozent in Bryn Mawr gelehrt hatte und ab Juni 1902 acht Jahre als Präsident (einem Rektor vergleichbar) an der Spitze der Eliteuniversität Princeton (New Jersey) gestanden war, verlor den Status des allseits verehrten Alumnus.

Die Woodrow Wilson School of Public and Administrative Sciences und das Wilson College blieben zwar nach ihm benannt, doch vor zwei Jahren hängte die Universitätsleitung schließlich nach Protesten von Hochschülerschafts-Organisationen ein Großporträt des umstrittenen Präsidenten aus der Mensa ab und begann die Rolle ihres Mentors zu hinterfragen. Nach Befassung des Boards scheiterte ein Versuch, die postgraduale Schule und das College umzubenennen. Wilson blieb der bestimmende und umstrittene Namensgeber vor Ort. Aus Manfred Bergs soeben erschienener Biographie wird erkennbar, dass Wilson keine außenpolitische Erfahrung und nur marginale Kenntnisse vom Ausland hatte.

Den Intellektuellen aus den Reihen der Demokraten begleitete der Nimbus des gebildeten, abwägenden Staatsmannes, doch erwies er sich gegenüber Beratern wie Edward House als eigensinnig. Als Wilson nach seinem Wahlsieg das prestigeträchtige Amt 1912 antrat, wollte er sich auf die Innenpolitik konzentrieren. Tatsächlich aber musste sich kaum ein US-Präsident stärker in der Außenpolitik bewähren als der dafür schlecht vorbereitete Büchermensch Wilson.

Kein Europa-Kenner

Als sich der Konflikt der Entente mit dem militärisch hochgerüsteten Reich zuspitzte, hatten sich die Isolationismus-Befürworter zunächst auf den Atlantik verlassen, der sie vom Krieg trennte. Aber gerade die ertrinkenden Passagiere und explodierende Schiffe zogen die USA kausal in den europäischen Konflikt hinein.

Wilson kannte die schwelenden Konflikte, das Weltmachtstreben der Deutschen, die Nationalitätenprobleme der Habsburger Monarchie und die indolente Haltung des implodierenden British Empire recht wohl. Die Reibungen waren vor dem Ersten Weltkrieg virulent geworden, wie Marokko-Krise, Balkankriege und Scharmützel in Afrika zeigten. Zentrifugale Bestrebungen im Süden der Donaumonarchie sowie der permanenten Sprachenstreit in Böhmen, Mähren und Galizien und die ungelöste polnische Frage nagten am Habsburger Reich. Der Zerfall war demnach eine Frage der Zeit, der Krieg beschleunigte nur das Ende des sensiblen Machtgleichgewichts auf dem Kontinent.

Aber indem sich Wilson zum Nachkriegsarchitekten aufschwang, zeigten sich seine mangelhaften Kenntnisse über Europa. Dass er sich mit dem deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts sowie mit Theoretikern wie Georg Jellinek und Paul Laband befasst hatte, änderte nichts an diesem Defizit. Anglophil, wie Wilson war, hatte er vor seinem Amtsantritt auf europäischem Boden zweimal England bereist, einmal führte ihn ein Abstecher nach Frankreich und in die Schweiz. Die riesige k.u.k. Monarchie, deren Erhaltungswürdigkeit seine Administration noch im Krieg beteuerte, kannte Wilson nicht aus eigener Anschauung. Daher versagte seine Selbstbestimmungsdoktrin in grenznahen Regionen ebenso wie in Südtirol.

Auch im Verhältnis zu Mexiko zeigten sich Inkonsequenz und Ambivalenz von Wilsons Handeln und Aussagen. Hatte er nach dem Huerta-Putsch in Mexiko ein Waffenembargo mit der Begründung der Neutralität gutgeheißen, so erklärte er dessen Aufhebung damit, dass es eine unübliche Einschränkung sei, keinen Handel zu treiben. Zunächst suchte er nach einem nichtigen Anlass, um die amerikanische Marine nach Veracruz zu senden; als dann aber andernorts im südlichen Nachbarland über hundert mexikanische Soldaten und zwölf US-Marineinfanteristen im Kugelhagel starben und ein anti-amerikanischer Proteststurm in Mexiko losbrach, zog er das Militär ab und verweigerte der Admiralität Verstärkungen.

Wilsons Politik gegenüber dem illegitimen Herrscher Victoriano Huerta war von einer religiös motivierten Ablehnung der Diktatur gekennzeichnet, die ethisch vertretbar, politisch aber unklug war. Auch nach dem raschen Ende der mexikanischen Militärherrschaft besserten sich die Zustände nicht. Wilson hätte aus dem Abenteuer auf dem eigenen Kontinent lernen müssen, als sich im Herbst 1914 das Neutralitätsproblem im Ersten Weltkrieg auftat.

Angesichts der Bevorzugung der Ententemächte zeichnete sich der Kriegseintritt schon lange vor dem uneingeschränkten U-Bootkrieg ab, den die Deutschen ab dem Februar 1917 trotz amerikanischer Warnungen durchführten. Im Umgang mit Angriffen auf zivile Schiffe reagierte Wilson harsch, doch zweifelhaft erschien seine unnachgiebige Haltung gegenüber deutschen Beschwerden über die ständigen Übergriffe der britischen Marine.

Wilson redigierte und milderte persönlich die Noten an den britischen Botschafter, welche den völkerrechtswidrigen Usus im Zuge der Seeblockade betrafen, Schiffe mit neutralen Zielhäfen (wie etwa Rotterdam) aufzubringen. Statt diese auf hoher See zu durchsuchen, leitete die britische Kriegsmarine sie in eigene Häfen um, wo verderbliche Ware verfaulte, statt der Bevölkerung Innereuropas zugute zu kommen.

Hungernde Zivilisten

Großbritannien betrachtete Lebensmittel als "Kontrebande", das heißt als kriegstaugliche Güter, die beschlagnahmt werden durften. Diese Rechtsansicht war umstritten, doch der juristisch gebildete Wilson wollte sich auf keinen Streit mit der britischen Regierung einlassen und diese Fragen erst nach dem Krieg diskutieren.

In den USA wuchs die Empörung über zivile Opfer auf Passagierdampfern wie der "Lusitania", die allerdings Waffen transportierten. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen Macht hätten die USA verhindern können, dass die Entente die Mittelmächte aushungerte, was vor allem auf Kosten der Zivilbevölkerung ging, denn an der Front wurden die Soldaten bis Kriegsende hinreichend ernährt.

Wilson setzte nach dem Krieg mit seinen Bestrebungen um eine Friedensordnung und den Völkerbund Zeichen; krankheitsbedingt konnte er aber weder dieses Projekt in den USA populär noch die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Erfolg machen. Somit scheiterte der Intellektuelle aus Virginia sowohl außen- als auch innenpolitisch, wo er den Weg für die Republikaner um Hoover räumen musste.

Literatur:

Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2017, 227 Seiten mit 17 Abb., 17,50 Euro.

Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.