Zum Hauptinhalt springen

Der Himmel über Athen

Von Christian Pinter

Wissen
Die Zeitgenossen hielten die Sternwarte für "eine der ersten Zierden Athens."
© Pinter

Vor 175 Jahren legte man nahe der Akropolis den Grundstein zu einem - fast - österreichischen Observatorium.


Wien, am Morgen des 8. Juli 1842: Der Schatten des Mondes verdunkelt die Stadt. Um die totale Sonnenfinsternis zu beobachten, haben Astronomen in Schönbrunn und im Botanischen Garten Aufstellung genommen.

Als der Mond die Sonne zur Gänze bedeckt, kehrt zwei Minuten lang die Nacht zurück. Hunde kauern sich auf den Boden, Lerchen verstummen, Fledermäuse flattern umher. Die "Wiener Zeitung" berichtet von einem "plötzlichen Ruhen der meisten lärmenden Geschäfte". Adalbert Stifter erzählt von "unartikulierten Lauten der Bewunderung und des Staunens". Menschen ergreifen einander an den Händen. Manche weinen.

Georg Bouris hätte das Himmelsschauspiel wohl gern gesehen. Doch er ist in Athen unabkömmlich. Hier lässt König Otto I. den Grundstein zu einer Sternwarte legen. Auch Bouris, ihr nominierter Leiter, hält eine Rede. In Athen wird die Sonne aber nur zu zwei Dritteln vom Mond bedeckt. Es bleibt daher taghell. Wer durch Schutzgläser schaut, bei dem kommen unliebsame Erinnerungen hoch: Die in eine Sichel verwandelte Sonnenscheibe ähnelt in Form und Lage jetzt ausgerechnet dem türkischen "Halbmond"!

Kämpfe um Autonomie

Seit dem 15. Jahrhundert war Griechenland Teil des Osmanischen Reichs. Doch schließlich regte sich Widerstand. Alexander Ypsilantis, 1792 in Konstantinopel geboren, bereitete Aufstände in Moldau und der Walachei vor. Sein kleines Bataillon wurde 1821 aufgerieben. Als der fliehende Kämpfer die Grenze nach Österreich überschritt, ließ ihn Staatskanzler Klemens Metternich einsperren. Ypsilantis starb kurz nach seiner Freilassung in Wien, im Alter von 36 Jahren.

Auf dem Peloponnes waren die Aufstände erfolgreicher. Europäische Intellektuelle unterstützten sie. Der Bayernkönig Ludwig I. verfügte unter anderem, das "i" im Namen "Baiern" verbindlich gegen das griechische Ypsilon zu tauschen. Schließlich griffen England, Frankreich und Russland gegen die Osmanen ein, freilich von eigenen Interessen angetrieben. 1827 entschieden sie die Seeschlacht von Navarino für sich.

Prinz Otto, der in Salzburg geborene, 16-jährige Sohn Ludwig I., wurde zum König Griechenlands bestimmt. In seinem Auftrag prägte der preußische Architekt Gustav Eduard Schaubert das neue, klassizistische Stadtbild Athens mit. Er zeichnete auch die ersten Pläne für die Athener Sternwarte.

Als Standort wählte man den 105 Meter hohen, zerklüfteten Kalksteinhügel westlich der Akropolis, auf dem in der Antike Nymphen verehrt wurden. Die endgültige Ausführung übernahm der dänische Architekt Theophil Hansen. Er hatte sich 1837 in Athen niedergelassen, um den antiken Baustil zu studieren. Jetzt zieht er einen "Tempel der Astronomie" auf dem Nymphenhügel hoch, erschaffen aus weißem Marmor.

Doch schon kurz nach der Grundsteinlegung kommt es zum Volksaufstand gegen den König, Otto I.: Danach wird seine Macht beschränkt. Hansen folgt einem Ruf aus Wien, wartet zuvor jedoch die Fertigstellung seiner Sternwarte ab. Das ganze Projekt wird von Österreich aus finanziert!

Seit dem 17. Jahrhundert haben sich immer mehr Griechen in Wien angesiedelt - bevorzugt rund um den Fleischmarkt. Die meisten betreiben Orienthandel, importieren z.B. Kaffee, Tabak oder Teppiche. Die erfolgreichen Kaufleute verleihen auch Geld.

Simon Sina der Ältere ließ sich um 1800 in Wien nieder. Er machte sein Vermögen mit der Einfuhr von Baumwolle. Nun leitet sein Sohn Georg, geboren am 20. November 1783 in Moschopolis, die Geschäfte. Er und sein Bankhaus sind mit Verkehrsprojekten verwoben: etwa mit der Pferdeeisenbahn Budweis-Linz-Gmunden, dem Wiener Neustädter Kanal, der späteren Südbahn von Wien nach Gloggnitz oder der Wien-Raaber Bahn. Georg Sina gilt schließlich als einer der reichsten Männer der Monarchie. Er kann sich Bau und Betrieb einer Sternwarte leisten.

Wiener Einfluss

Der Gründungsdirektor Georg Bouris ist 1802 in Wien zur Welt gekommen. Hier hatte seine aus Ioannina geflohene Familie eine neue Heimat gefunden. Der Kaufmannssohn studierte zunächst Philosophie und Recht, sattelte dann jedoch auf Physik, Mathematik und Astronomie um. Bereits als 24-Jähriger leitete er die griechische Schule in Wien. Dann begann er, Physik an der Athener Universität zu lehren. Vermutlich war er es, der die Idee zum Bau der Sternwarte hatte.

1847 wird sie von Otto I. feierlich eröffnet. Zeitgenossen loben die "Schönheit und Nettigkeit" des Bauwerks. Es werde von Einheimischen und Fremden "als eine der ersten Zierden Athens betrachtet", heißt es in einem Bericht. Tatsächlich ist damit auch die erste reine Forschungsinstitution im neuen Griechenland entstanden. Die hochaufragende Kuppel schützt ein schlankes Linsenteleskop mit 16 cm Objektivdurchmesser. Es stammt vom Wiener Optiker Simon Plößl.

Doch Direktor Bouris verbringt seine Nächte vorwiegend am Meridiankreis. Dieses Spezialinstrument mit seiner 9,5 cm großen Objektivlinse hat der Instrumentenbauer Christoph Starke hergestellt, in der Werkstatt des k.k. Polytechnischen Instituts zu Wien. Es lässt sich nur nach Süden ausrichten, das jedoch äußerst exakt. Mit diesem Instrument und zwei Pendeluhren bestimmt Bouris die himmlischen Koordinaten von weit über tausend Sternen.

Auch die exakte Uhrzeit lässt sich damit gleichsam "vom Himmel ablesen". Jeden Tag zieht Bouris eine Hohlkugel zur Spitze des weithin sichtbaren Masts auf dem Nymphenhügel hoch. Zur vollen Mittagsstunde lässt er den Zeitball herabstürzen. Die Athener stellen ihre Uhren danach, ebenso die Navigatoren im Hafen von Piräus.

Doch Georg Bouris ist unzufrieden, weil er "noch immer ganz allein das sämtliche Personal" dieser Sternwarte stellt. Der Nymphenhügel müsse eigentlich "Skorpionen-, oder Tarantel-, oder Skolopender-, oder am passendsten Fliegenhügel heißen", klagt er, "weil unvertilgbare Myriaden von Fliegen aus den nahen Schlächtereien die Instrumente trotz aller Beschirmung allmählich in einen gräulichen Zustand versetzen." Tatsächlich kehrt er der Sternwarte nach acht Jahren Arbeit den Rücken. Wie es heißt, leide er an den Folgen eines klimatischen Wechselfiebers, also offenbar an Malaria. Bouris stirbt 1860 in Wien.

Der wohlhabende Sternwartegründer Georg Sina ist Bouris um vier Jahre vorangegangen. Sein Sohn Simon hat das Licht der Welt am 15. August 1810 in Wien erblickt, später Philosophie und Astronomie studiert. Für den österreichischen Lexikografen Constantin Wurzbach tritt Simon Sina weniger als Besitzer unermesslicher Reichtümer in Erscheinung, sondern "vielmehr als Benützer derselben zu den edelsten Zwecken". So lässt er z.B. die Athener Akademie errichten; und zwar wieder von Theophil Hansen. Dieser baut auf Simons Rechnung auch die (heute noch vorhandene) griechisch-orthodoxe Kirche am Wiener Fleischmarkt um.

Im Bann des Mondes

Mit der weiteren Leitung der Athener Sternwarte betraut Sina den aus Schleswig-Holstein stammenden Julius Schmidt. Der Glasersohn hatte schon im Alter von 14 Jahren ein Werk mit Kupferstichen der Mondoberfläche in Händen gehalten.

Der Mond zog ihn fortan in seinen Bann. Mit dem vom Vater gebauten Fernrohr schaute Justus ab 1840 selbst zu ihm hoch: an Laternenpfähle gelehnt, vom Hofplatz, vom Dachboden oder sogar vom Schornstein des elterlichen Hauses aus. Später arbeitete er an den Teleskopen der Sternwarten in Altona, Hamburg, Bilk, Bonn und Olmütz.

1858 langt Schmidt in Athen ein. Er findet die Instrumente des Observatoriums in einem bemitleidenswerten Zustand vor. Wieder instand gesetzt, zeigt ihm Plößls großes Teleskop bei 300-facher Vergrößerung aber "unermessliches Detail" auf dem Erdtrabanten. Schmidt nutzt die harten Schatten der Mondkrater, um die Höhen ihrer steilen Wälle zu bestimmen.

Die damals beste Mondkarte ist im Druck 95 cm groß und stammt aus dem Jahr 1836. Sie wurde vom deutschen Bankier Wilhelm Beer und dem Pädagogen Johann Heinrich Mädler gezeichnet. Schmidts Karte erscheint 1878 in Berlin. Sie ist rund doppelt so groß und zeigt mit über 30.000 Kratern auch wesentlich mehr Detail. Das Werk verschafft seinem Autor und der Athener Sternwarte höchste Anerkennung.

Am Morgen des 7. Februar 1884 findet man Direktor Schmidt tot im Observatorium. Er wird unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Schon acht Jahre zuvor, am 15. April 1876, ist Simon Sina in Wien gestorben. Mit seinem Ableben versiegen die Mittel für die Sternwarte. Sie wird ab 1884 von Demetrios Kokkidis geleitet, der sein Astronomiestudium in Berlin absolviert hat - damals noch mit einem Stipendium der Familie Sina.

Die Vermessung

Das Königreich Griechenland soll vermessen werden. Weil geschultes Personal fehlt, bittet man Österreich-Ungarn um Hilfe. Offiziere des k.k. Heeres stecken 1889 eine Basislinie in Eleusis ab und überziehen das Land dann mit einem Netz aus Dreiecken. Dieses muss an einen Punkt mit genauestens bekannten geografischen Koordinaten angeschlossen werden: Dank der Vorarbeiten von Bouris bietet sich da vor allem die Athener Sternwarte an.

Der Projektleiter, Oberstleutnant Heinrich Hartl, schwärmt vom Ausblick, den er vom Observatorium aus genießt: auf die Akropolis, den wohlerhaltenen Theseustempel oder auf die moderne Stadt mit dem schroffen Felskegel des Lykabettus im Hintergrund. Dies erwecke "die erhabensten Erinnerungen an eine Kulturepoche, die uns heute noch mit staunender Bewunderung erfüllt", resümiert Hartl: "Welches zweite Observatorium der Welt könnte sich eines solchen Horizonts rühmen?"

1890 wird die Sternwarte in ein staatliches Institut umgewandelt. Sie heißt seither Nationalobservatorium Athen (NOA). Die beiden historischen, einst in Wien gefertigten Teleskope stehen noch auf dem Nymphenhügel. Ein wissenschaftsgeschichtliches Museum stellt dort außerdem Uhren, Himmelsgloben, Barometer und Instrumente zur Landvermessung aus dem 19. Jahrhundert vor. Darunter entdeckt man auch Geräte, die Georg Bouris seinerzeit aus Österreich mitgebracht hat.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt in Wien und schreibt im "extra" der Wiener Zeitung seit 1991 über Astronomie und Raumfahrt. Internet: www.himmelszelt.at