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Die Melancholie des Überlebens

Von Christian Hütterer

Wissen

Eine Neuentdeckung: Moriz Scheyer, Wiener Journalist und Chronist einer jahrelangen Flucht, hat Lebenserinnerungen geschrieben. Das Buch war lange verschollen, nun ist es erstmals zugänglich.


Moriz Scheyers österreichischer Pass, ausgestellt vom Gesandten in Paris.
© Peter Singer

Es ist die Geschichte eines zufälligen Fundes, und sie begann im Jahr 2005 in einem Vorort von London. Peter Singer und sein Bruder räumten damals das Haus ihres Vaters Konrad, der umziehen musste. Auf dem Dachboden fanden sie einen Umschlag und darin einen Stapel vergilbtes Papier.

Auf dem obersten Blatt konnten die Brüder die Worte "Ein Überlebender" lesen. Peter Singer stand vor einem Rätsel. Das Manuskript stammte von seinem Großvater Moriz Scheyer und Singer hatte von der Existenz dieses Buches gewusst. Sein Vater Konrad hatte ihm allerdings stets gesagt, dass er es vernichtet hatte, weil es ihm voller Selbstmitleid und Hass gegen Deutschland und die Deutschen erschienen sei. Singer begann seine Recherchen und wie sich herausstellte, hatte Scheyer neben dem Original auch einen Durchschlag des Manuskripts aufgehoben - und dieser war es, der auf dem Dachboden wiedergefunden wurde.

Wer war aber dieser Moriz Scheyer? Im Wien der Zwischenkriegszeit war er einer der prominentesten Journalisten, bekannt für seine geschliffenen Feuilletons und seinen Umgang mit den Größen des damaligen Kulturlebens. Heute ist er in Österreich vergessen, in anderen Ländern wurde er aber im letzten Jahr wiederentdeckt. Von seinem Enkel Peter Singer übersetzt, erschien Scheyers Buch vor einigen Monaten in englischer und französischer Sprache und wurde mit großem Interesse aufgenommen. Mit einiger Verspätung erscheint nun auch die deutsche Originalfassung (siehe Kasten).

Geboren wurde Moriz Scheyer am 27. Dezember 1886 in Focsani im heutigen Rumänien in eine wohlhabende jüdische Familie, er wuchs aber in Wien auf, wo er 1911 sein Studium abschloss. Noch vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges begann er für das "Neue Wiener Tagblatt" zu schreiben. Scheyer war ein großer Liebhaber Frankreichs, für ihn waren dieses Land, dessen Sprache und Kultur eine Leidenschaft - und umso größer war sein Glück, als er nach dem Ende des Krieges Korrespondent der "Neuen Wiener Tagblatts" in Paris wurde.

1924 kehrte Scheyer nach Wien zurück und wurde Leiter des Feuilletons seiner Zeitung, eine Funktion, die er bis zum "Anschluss" im März 1938 innehaben sollte. In dieser Position schloss Scheyer Bekanntschaft mit vielen Geistesgrößen der damaligen Zeit, etwa dem Dirigenten Bruno Walter, aber auch den Schriftstellern Arthur Schnitzler und Joseph Roth.

Ein besonders enges Verhältnis hatte Scheyer zum weltberühmten Stefan Zweig. Beide teilten das Interesse für große Persönlichkeiten, und noch vor Zweigs "Sternstunden der Menschheit" veröffentlichte Scheyer eine Reihe historischer Miniaturen. Er war aber auch als Reiseschriftsteller tätig und verfasste mehrere Bände über tatsächliche und erfundene Erlebnisse in fernen Ländern.

Diese Bücher wurden sehr positiv aufgenommen, so hieß es etwa in einer Rezension der "Wiener Zeitung" im Dezember 1930, dass Scheyer "schon so manches feine Buch" verfasst habe, sein damals aktuelles Werk wurde aber gar als "einzigartig und unendlich nobel" bezeichnet.

Mit dem "Anschluss" im März 1938 fand Scheyers gewohntes Leben in den besten Wiener Kreisen ein abruptes Ende, und schon wenige Tage danach verlor er seinen Posten beim Tagblatt. Fünf Monate später konnte er mit seiner Frau Wien in Richtung Paris verlassen, die beiden Stiefsöhne waren zu dieser Zeit bereits in Großbritannien in Sicherheit.

Freiwillige Emigrantin

Doch Scheyer wurde von seinem geliebten Frankreich bitter enttäuscht. Er stieß in Paris in den besten Fällen auf wohlwollende Ignoranz, in den meisten allerdings auf Ablehnung; seine Warnungen vor dem nationalsozialistischen Deutschland verhallten, ohne ernst genommen zu werden. Doch es gab auch eine erfreuliche Überraschung: Unerwartet stand eines Tages das Wiener Hausmädchen der Familie Scheyer vor der Tür. Die aus Böhmen stammende Slava Koláova hatte Jahrzehnte bei ihnen verbracht und war längst mehr als eine Haushälterin, nämlich quasi ein Teil der Familie geworden. Freiwillig ging sie mit dem Ehepaar Scheyer in die Emigration - und sollte bis zum Ende des Krieges bei den beiden Verfolgten ausharren.

Als der Krieg schließlich begann, wurde er von großen Teilen der französischen Bevölkerung eher als großes Abenteuer denn als echte Bedrohung aufgefasst. In den ersten Monaten blieben beide Seiten passiv und in ihren Stellungen, und so wurde dieser Krieg in Frankreich seltsamer Krieg, drôle de guerre, genannt.

Der Sitzkrieg schlug aber rasch in einen Blitzkrieg um und nach dem Ende der Kämpfe blieb ein geteiltes Frankreich, der größere Teil des Landes wurde von deutschen Truppen besetzt, der kleinere Teil hingegen von dem von Deutschland abhängigen Marschall Petain regiert.

"zone libre"

Scheyer wurde in Paris als Jude mit ausländischer Staatsangehörigkeit verhaftet und in ein Lager gebracht. Obwohl er nach einigen Wochen wieder frei kam, war ihm diese Inhaftierung ein Signal, dass noch Schlimmeres bevorstehen könnte. Gemeinsam mit seiner Frau überquerte er heimlich die Grenze in die zone libre, also in jenen Teil Frankreichs, der noch nicht von deutschen Soldaten besetzt war.

Doch auch dort konnten sich Scheyer und seine Frau nicht in Sicherheit fühlen, der Antisemitismus wuchs und Juden wurden von Tag zu Tag mehr drangsaliert. Das Leben in der ständigen Ungewissheit verschlimmerte Scheyers Herzprobleme und ein Besuch beim Arzt wurde notwendig. Scheyer bekam einen Ratschlag, der höhnisch erscheint, denn der Arzt empfahl seinem Patienten, der täglich mit der Verhaftung rechnen musste und in dauernder Angst lebte, jede Aufregung zu vermeiden. Doch das kranke Herz wurde ihm bald darauf zur Rettung: Neuerlich verhaftet, wartete Scheyer schon auf den Transfer in ein Konzentrationslager, als ihn ein mitleidiger Arzt aus gesundheitlichen Gründen für transportunfähig erklärte und befristet aus der Haft entließ.

Scheyer und seine Frau nutzten diese Chance, um unterzutauchen. Ein kommunistischer Widerstandskämpfer brachte die Familie in den franziskanischen Konvent Labarde nahe dem Dorf Belvès, wo sie für den Rest des Krieges Unterschlupf fand. Mehr als zwei Jahre verbrachten sie in diesem Versteck und mussten dabei stets auf der Hut vor Razzien sein, denn mittlerweile war auch der Süden Frankreichs von deutschen Truppen besetzt worden.

Die Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 war schließlich eine erlösende Nachricht, und bald darauf ging das Leben im Verborgenen zu Ende. Scheyer standen nun wieder alle Wege offen, doch das Erlebte belastete ihn zu sehr und er fühlte sich zu alt für einen Neuanfang. Er beantragte zwar einen österreichischen Reisepass und bekam ihn auch, dennoch kehrte er nie wieder nach Wien zurück. Scheyer blieb vielmehr samt seiner Frau und dem Hausmädchen in Belvès, wo er vier Jahre nach dem Ende des Krieges starb.

Ein Hauch von Wehmut

Wenn man Scheyer nach seinen Werken beurteilt, so war er kein besonders lebensfroher Mensch. Schon über seinen ersten Büchern schwebt stets ein Hauch Melancholie und Wehmut. So verrät schon der Titel seines Buches, "Flucht ins Gestern", seine Sehnsucht nach einer heilen, aber vergangenen Welt, und die Zukunft ist ihm darin "kein beschwingter Glaube, sondern ein Feind, der böse und heimtückisch auf der Lauer liegt". Viele der Lebensläufe jener Persönlichkeiten, die Scheyer in diesem Buch schildert, beschreiben den Kampf gegen ein unbarmherziges Schicksal und so bleibt den handelnden Personen "nur ein Paradies auf Erden, und das ist die Erinnerung".

Dieser Pessimismus schlägt auch in seinem Buch über die Flucht durch. Mehrmals stellt sich Scheyer darin die Frage, warum er dieses Buch überhaupt schreibe. Seine Antwort: Er fühlte sich verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Zugleich zweifelte er am Sinn dieser Niederschrift, denn er war überzeugt, dass die Menschheit keine Lehren aus dieser furchtbaren Zeit ziehen und dass sein Bericht über das Erlebte vergebens sein würde. Scheyer blieben zwar die Gräuel der Vernichtungslager erspart, er haderte aber mit einem Schicksal, das Familie, Freunde und Bekannte in den Tod führte, während er selbst in relativer Sicherheit den Krieg überleben konnte.

So bleibt Scheyers Bericht über die Jahre der Verfolgung das eindrucksvolle Zeugnis eines Mannes, der gerettet wurde und dafür voller Dankbarkeit war, dem aber die Tatsache, ein Überlebender zu sein, auch eine Last war.

Moriz Scheyers Buch "Selbst das Heimweh war heimatlos" ist soeben im Rowohlt Verlag erschienen. Der Verfasser schrieb zwar, sein Buch habe "nichts mit dem zu schaffen, was man gemeinhin unter ‚Literatur’ versteht", aber seine Erinnerungen sind doch das Werk eines feinfühligen Literaten.

Buchpräsentation:

Freitag, 10. Nov 2017 um 19:00 Uhr

Lesesaal der Wienbibliothek im Rathaus,

Eingang Lichtenfelsgasse 2, Stiege 6 (Glaslift), 1. Stock, 1010 Wien

Moderation: Norbert Mayer

Begrüßung: Sylvia Mattl-Wurm, Direktorin der Wienbibliothek

Marcel Atze, Leiter der Handschriftensammlung Wienbibliothek