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Wohnraum für den "neuen Menschen"

Von Lily Bauer und Werner T. Bauer

Wissen

Die Gemeindebauten im "Roten Wien" waren ein ehrgeiziges Projekt, das weit über Architektur hinausging: Rückblick auf eine visionäre Idee.


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Teil des reformatorischen Aufbauwerks: der Reumannhof in Wien-Margareten.
© Mario Lang

Am 2. Februar 1896 erscheint in der "Arbeiter-Zeitung", dem "Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie", unter der Schlagzeile "Was die Sozialdemokraten von der Kommune fordern!" das von Franz Schuhmeier, dem legendären "Volkstribun von Ottakring", und Jakob Reumann, dem späteren Wiener Bürgermeister, entwickelte kommunale Programm der jungen Sozialdemokratie. Unter "Punkt 7. Wohnungspolizei" heißt es da: "Die Kommune hat ihr Grundeigenthum durch Erwerbung noch unverbauter Grundstücke in großem Maßstabe zu vermehren und darauf systematisch Häuser mit billigen Wohnungen zu errichten."<p>Eine geradezu utopisch anmutende Forderung, gleichzeitig jedoch ein Plan von enormer Bedeutung für den späteren Erfolg der Sozialdemokratie im Roten Wien. Denn die Wohnverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit sind miserabel. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt und ihrer Vororte - gemessen an den heutigen Grenzen - nahezu verzehnfacht. Und während sich das wohlhabende Bürgertum im Wien des Fin de Siècle komfortabel einrichtet, verbirgt sich hinter den behübschten Stuckfassaden der privaten, rasch aus dem Boden gestampften Zinskasernen, oft das nackte Elend.

Die Vorstellung vom "neuen Menschen" anno 1930 . . .
© Aus der Frauenzeitschrift "Die Unzufriedene", 30. August 1930

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"Potemkinsche Stadt"

<p>Über 90 Prozent aller Wiener Wohnungen verfügen um die Jahrhundertwende weder über WC noch über einen Wasseranschluss - "Aborte, welche für je zwei Parteien gemeinsam sind und der Wasserspühlung entbehren" und die sogenannte Bassena befinden sich am Gang; mit Gas sind 14 Prozent der Wohnungen versorgt, elektrisches Licht gibt es nur in sieben Prozent der Mietshäuser. Der Architekt Adolf Loos bezeichnet Wien deshalb als "potemkinsche Stadt".<p>Die meisten privaten Mietwohnungen sind nicht nur schlecht ausgestattet, sondern darüber hinaus auch nahezu unerschwinglich: "Zudem aber sind gerade diese Räume mit Bettgehern und Untermietern überfüllt gewesen, denn die Mietzinse dieser Kleinwohnungen waren so hoch, daß sie der bestbezahlte Arbeiter allein kaum leisten konnte und auf das unterstützende Einkommen durch Untermieter angewiesen war", heißt es in dem 1927 herausgegebenen Band "Das Neue Wien" rückblickend.<p>Rosa Jochmann, die spätere Grande Dame der Sozialdemokratie, berichtet über die Wohnverhältnisse ihrer Kindheit: "Mit den Eltern waren wir sechs Personen, dazu noch zwei Bettgeher. Wir hatten Zimmer und Küche. Mutter konnte unsere Wohnung nicht nach den Gesetzen ‚Licht, Luft und Sonne‘ auswählen, sondern musste immer die billigste Wohnung nehmen. Wenn sie irgendwo von einer billigeren Wohnung hörte, drängte sie zum Übersiedeln, um bei der Miete ein paar Kronen einzusparen."<p>Tatsächlich liegt die Zahl der Wohnungen mit Untermietern oder Bettgehern zwischen 26 Prozent in Simmering und 40 Prozent in der Brigittenau. 58 Prozent der Menschen aus Arbeiterfamilien besitzen kein Bett für sich alleine. Unhaltbare und unhygienische Zustände, Lebensumstände, die krank machen.<p>Nach dem Zusammenbruch der Monarchie, der die angespannte Wohnsituation noch weiter verschlechtert, erringt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) am 4. Mai 1919 die absolute Mehrheit im Wiener Gemeinderat. Und mit der Trennung Wiens von Niederösterreich am 1. Jänner 1922 erhält die Stadt endlich auch jene Steuerhoheit, die der Gemeinde die finanziellen Mittel für ihre ehrgeizigen Reformvorhaben zuführen wird.<p>

"Gemeinschaftsmensch"

<p>Die Errichtung gesunder und menschenwürdiger Wohnungen, eine der zentralen Forderungen der Sozialdemokratie, wird nun zur wichtigsten Grundlage ihres Erfolgs. Bis 1934 werden rund 400 Gemeindebauten mit über 60.000 neuen Wohnungen gebaut - ein beeindruckendes und auch international stark beachtetes Aufbauwerk. Doch das "Rote Wien" will weit mehr, als "nur" Wohnraum schaffen. Bürgermeister Karl Seitz verkündet 1924 im Gemeinderat programmatisch:<p>"Jetzt kommt die neue Bauperiode, in der wir nicht mehr kleine Einzelhäuser bauen mit kleinen Höfen, sondern große Anlagen mit Gemeinschaftswohnungen, in denen Menschen in Massen zusammen leben [. . .]. Wir wollen unsere Jugend nicht zu Individualisten, zu Einzelgängern erziehen, sie sollen in Geselligkeit aufwachsen und zu Gemeinschaftsmenschen erzogen werden." Unter diesem Gesichtspunkt erhält das Wohnbauprogramm des Roten Wien eine weitaus größere Dimension.<p>Schon im Gemeinderatsbeschluss von 1923 wird die Errichtung von Gemeinschaftseinrichtungen in den neuen Wohnbauten festgelegt. Bäder und Waschküchen, Kindergärten und Mutterberatungsstellen, Schulzahnkliniken und Arztpraxen, Tuberkulosefürsorgestellen und Krankenkassenambulatorien, Versammlungsräume und Arbeiterbüchereien, Turnsäle und Lehrwerkstätten, Konsum-Filialen und zahlreiche weitere Geschäftslokale verwandeln die großen Gemeindebauten in nahezu autarke Kleinstädte. Darüber hinaus aber sind diese Infrastruktureinrichtungen Instrumente der sozialen Fürsorge, Bildung und Freizeitgestaltung.<p>Den "Schöpfern des neuen Wien" geht es um nichts weniger als die Errichtung einer neuen Gesellschaft mit "neuen Menschen": "Die Menschen, die in unseren neuen Häusern wohnen, sind neue Menschen, leben und atmen nicht nur in neuen Räumen, sondern fühlen und denken auch anders."<p>Wie diese "neue Menschen" aussehen sollen, illustriert die Frauenzeitschrift "Die Unzufriedene" am 30. August 1930: Auf der "Ringstraße des Proletariats", vor dem neuerrichteten Reumannhof steht sie, die idealtypische Arbeiterfamilie, selbstbewusst in die Zukunft blickend: Der Arbeiter mit entschlossenem Blick, die Frau modern gekleidet, mit Kurzhaarfrisur - "lange Haare, kurzer Verstand"! - , die Kinder sauber und adrett. In einem kleineren Bildfeld links sind als Kontrast dazu die typischen Vertreter des dekadenten und verrotteten Bürgertums dargestellt, mit Zylinder, Gehrock und Spazierstock - die alte, dem Untergang geweihte Welt . . . (siehe Abbildung)<p>Ein Gesellschaftsmodell, das auch engagierte junge Linke, die selbst oft aus dem wohlhabenden Großbürgertum stammen, begeistert. Wie etwa die spätere Pionierin der empirischen Sozialwissenschaft, Marie Jahoda, die mit ihrem damaligen Lebensgefährten Paul Lazarsfeld eine Wohnung im eben errichteten Karl-Marx-Hof bezieht und sich auch in ihrer Freizeit für die Sozialdemokratie engagiert. Jahrzehnte später beschreibt sie die damals vorherrschende Stimmung: "Austromarxismus war nicht nur ein Versprechen für eine bessere Zukunft, sondern eine das ganze Leben umfassende Aktivität. Von den Wohnbauten zu den Arbeitersymphoniekonzerten, von der Schulreform zum Schilaufen, von den Kinderkolonien zum Kaninchenzüchten, tatsächlich von der Wiege bis zum Grab, hat die Bewegung das Leben von Hunderttausenden bereichert."<p>Der "neue Mensch", das ist eine Vision, die im "kurzen 20. Jahrhundert" (Iván T. Berend) von den unterschiedlichsten Ideologien aufgegriffen wird, und - wie es im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden heißt - gleichermaßen Diktatoren und Schlächtern wie auch Revolutionären, Aufklärern und Humanisten als Leitbild dient. Der "neue Mensch", das ist eine "Obsession des 20. Jahrhunderts", der sich auch Politiker wie Karl Seitz, Julius Tandler oder Otto Bauer, Persönlichkeiten des Roten Wien, deren demokratische Gesinnung über jeden Zweifel erhaben ist, nicht entziehen konnten.<p>

Schöne Utopie

<p>Fortschrittsoptimismus und "Wissenschaftsgläubigkeit" - der Historiker Michael Schwartz spricht in diesem Zusammenhang von der "naturwissenschaftlichen Frömmigkeit der Sozialdemokratie" - verheißen eine "neue Zeit", geprägt von "neuen Menschen", die in einer besseren - sozialistischen - Gesellschaftsordnung leben. Der "neue Mensch" ist ein an Körper und Geist gesundes, verantwortungsvolles und gebildetes, arbeits- und leistungsfähiges Individuum, das der Befürsorgung nicht mehr bedarf. "Denn", so Julius Tandler 1930, "mit dem Begräbnis des letzten Fürsorgers wird die Menschheit befreit sein."<p>Eine schöne Utopie, gleichzeitig aber auch eine gefährliche, da in ihrem Keim totalitäre Illusion.<p>Anzunehmen ist, dass die sozialdemokratische Utopie vom "neuen Menschen" - wäre sie nicht bereits an der unmenschlichen Realität des totalitären Faschismus zerbrochen - vermutlich an sich selbst gescheitert wäre. Heute sind uns die großen gesellschaftspolitischen "Visionen" - glücklicherweise!? - abhanden gekommen und die Gemeindebauten des Roten Wien erfüllen in erster Linie ihre Primärfunktion: Die Bereitstellung leistbaren Wohnraums für breite Bevölkerungsschichten. Aber es schadet nicht, gelegentlich an ihre visionäre Idee zu erinnern.

Lilli Bauer, Journalistin, und Werner T. Bauer, Kulturanthropologe, sind Erfinder und Leiter des Museums "Waschsalon No 2" und Kuratoren der Dauerausstellung "Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof".