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Akustische Rückzugsorte

Von Peter Payer

Wissen
Telefonzelle in Wien, bei der Urania, um 1920.
© A1 Telekom Austria AG/Archiv

Die Geschichte der öffentlichen Telefonzelle verrät so manches über das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit.


Im öffentlichen Raum telefonieren zu können, ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Mehr oder weniger ungeniert sprechen wir in unser stets griffbereites Handy, auf der Straße, in der Tramway oder in der U-Bahn. Ob uns jemand zuhört oder nicht, versuchen wir geflissentlich auszublenden. Auch wenn sich da und dort heftiger Unmut darüber entlädt, so hat doch ein Abstumpfungs- und Anpassungsprozess eingesetzt. In relativ kurzer Zeit haben sich die gesellschaftlichen Toleranzgrenzen für das, was man allseits hörbar sagen kann respektive darf, verschoben.

Dabei war öffentlich zu telefonieren einst eine streng abgegrenzte, ja beinahe intime Angelegenheit. Telefonzellen, wie sie in Wien und Österreich noch in beträchtlicher Zahl erhalten sind, erzählen genau diese Geschichte. Ihr Design war von Beginn an Ausdruck der Suche nach einem Raum, in dem man sich möglichst effizient abschotten konnte von Lärm und Hektik der Umgebung wie von den Ohren fremder Passanten. Schon Meisterfeuilletonist Alfred Polgar erkannte die wahrnehmungsspezifische Essenz dieser urbanen Innovation: "Aber ist denn das Wesentliche einer Telephonzelle das Telephon? Nein, das Wesentliche sind die vier Wände. Die Enge. Die Ruhe im Lärm."

In Wien begann der Ausbau des Telefonnetzes in den 1880er Jahren. 1886 wurden erste Versuche mit einer "Isolierzelle" gemacht, die die "nöthige Ruhe" für ein Telefongespräch zwischen Wien und Brünn gewährleisten sollte. Man hielt an der Idee fest, obgleich es nicht an Unbehagen fehlte gegenüber der sich ausbreitenden Telefonierwut, einer - wie ein Zeitgenosse 1891 klagte - "entsetzlichen Verallgemeinerung der Telephonplage, daß an allen Straßenecken, auf allen Plätzen es dem Nächstbesten dem’s beliebt, möglich gemacht werden solle, an einen Telephon-Kiosk heranzutreten und irgend einen, ihm vielleicht ganz fremden, arglosen Mitbürger aus seiner Ruhe herauszutelephonieren."

Telefonzelle am Karlsplatz in Wien, um 1920.
© A1 Telekom Austria AG/Archiv

Internationaler Spitzenreiter war Stockholm, wo schon um 1900 eine Vielzahl an öffentlichen Sprechzellen des "Rikstelephons" existierte und von der Bevölkerung intenstivst genutzt wurde. In Wien setzte die Verbreitung derselben etwas verspätet ein. Zunächst wurden in Bahnhöfen, Postämtern und Lokalen öffentliche Sprechstellen eingerichtet, der Außenbereich (Straßen, Plätze, Parks) sollte folgen.

Technische Voraussetzung dafür war der Münzfernsprecher, der unter der Bezeichnung "Telephonautomat" vom Wiener Ingenieur Robert Bruno Jentzsch erfunden wurde. Die von ihm gemeinsam mit Stephan Bergmann gegründete "Telephonautomaten-Gesellschaft m.b.H." erhielt sodann von der staatlichen Postverwaltung die Erlaubnis zur gewinnbringenden Aufstellung derartiger Apparate - ein Telefonat kostete 20 Heller. Am 17. August 1903 ging das erste Gerät am Wiener Südbahnhof in Betrieb. Noch im selben Jahr folgten weitere im Nord- und im Westbahnhof, im Franz-Josefs-Bahnhof, im Café Central in der Herrengasse und in einem Vergnügungseta-blissement in der Prater Hauptallee. Ende 1907 waren in ganz Wien bereits 42 Münzfernsprecher installiert - in eigenen Häuschen, für die sich bald die Bezeichnung "Telefonzelle" etablierte.

Sie direkt im Straßenraum aufzustellen, war jedoch schwieriger als erwartet. Zu groß waren die Bedenken hinsichtlich einer Verschandelung des Stadtbildes. Ab etwa 1909 konnten die Widerstände des Magistrats und der Bezirksvertretungen wie auch jene der Konkurrenz befürchtenden Kaffeehausbesitzer überwunden werden. Die ersten im Freien aufgestellten Telefonzellen befanden sich, dezent kaschiert, im Stadtpark unter einer Trauerweide, unter Stadtbahnbögen oder in Durchhäusern.

Die vornehme Ringstraße war noch tabu. Erst 1912 konnte durch eine Änderung im Design - die Zelle war als eleganter achteckiger "Kiosk" gestaltet - auch dieser Stadtbereich miteinbezogen werden. Am Karl-Lueger-Ring, Ecke Schottengasse, entstand die erste derartige Zelle, die bald zum Standardtyp werden sollte. Ihre Gesamtzahl vermehrte sich rasant. Insgesamt 408 Telefonzellen waren im Jahr 1914 im Wiener Stadtgebiet registriert, die überwiegende Mehrzahl davon in der Innenstadt; allein im 1. Bezirk standen mehr als 50 öffentliche Fernsprechautomaten.

Ihre Konstruktion änderte sich im Lauf der Jahre, Schalldichtheit blieb aber eines der obersten Kriterien. Einerseits technisch bedingt, um eine von Hintergrundgeräuschen möglichst unbeeinträchtigte Kommunikation zwischen den Gesprächsteilnehmern zu gewährleisten, andererseits die Privatsphäre berücksichtigend, insofern die gesprochenen Worte nicht nach außen dringen sollten.

Die frühen Modelle, wie sie in Wien oder auch in Berlin aufgestellt worden waren, bestanden zu einem wesentlichen Teil aus dicken, mit Holz verschalten Wänden, einer ebensolchen Tür und einem kleinen Glasfenster. Die Verschalungen waren mit einer Mischung aus Lehm und Sägespänen ausgefüllt. Der kleine Innenraum war mit dünner Pappe, Filz und leichtem Baumwollstoff oder einer Tapete verkleidet.

Wiener Hersteller

Im August 1904 wurde im großen Saal des Haupttelegrafenamtes eine modifizierte Version der Sprechzelle getestet. Sie bestand aus einem Eisengerüst und Wänden aus Torfstein-Platten, die mit Gipsmörtel auf Holzleisten befestigt waren. Gleich mehrere Vorteile wären damit, wie es hieß, zu erzielen: "Der künstlich hergestellte Torfstein ist ungemein leicht, feuersicher und, was für die Telephonzelle von besonderem Werte ist, fast gänzlich schalldicht." Zur größtmöglichen Geräuschdämpfung wurden weitere, neue Mate-rialien erprobt, etwa Kork, Blech und schließlich Eternit. Hergestellt wurden die Anlagen im Wesentlichen von zwei Wiener Firmen: Bernhard Seethaler, "Alleiniger Specialist in Sachen Telephonzellen", 12. Bezirk, Pachmüllergasse 20, und Johann Josef Mayer, 7. Bezirk, Lindengasse 15. Eine originalgetreue Telefonzelle der Firma Seethaler, aus Holz und mit gepolsterter Tür, ist im Postmuseum in Küb am Semmering zu sehen.

Die Benützung der Telefonzellen regelte Paragraf 40 der 1910 vom Handelsministerium erlassenen "Telefonordnung". Grundsätzlich durften die öffentlichen Fernsprechautomaten von allen benützt werden, außer bei Gefahr der Übertragung ansteckender Krankheiten. Die gleichzeitige Benützung einer Sprechstelle durch mehrere Personen war untersagt.

Auch Georg Schall wies in einer 1913 veröffentlichten Schrift über das "Großstadtbenehmen" auf den richtigen Gebrauch von Telefonzellen hin: Ihre Standorte seien praktischerweise auf Tafeln oberhalb der meisten pneumatischen Briefkästen angeführt. Bei den Apparaten selbst befinde sich eine Gebrauchsanleitung, die Benützungsdauer sei auf zehn Minuten beschränkt. Und die Vermittlung eines Gesprächs habe möglichst unhektisch zu geschehen: "Wünscht man zu sprechen, so ruft man die Telephonzentrale durch ein einmaliges kräftiges Aufläuten auf, indem man die am Apparate befindliche Kurbel rasch herumdreht. Hierauf sind die Hörapparate sofort ans Ohr zu legen. Wiederholtes Aufläuten in kurzen Zwischenräumen ist zwecklos und behindert das Melden der Zentrale. Nach Meldung der Beamtin ist die Nummer zu nennen, auf die Wiederholung zu achten und diese allenfalls richtigzustellen. Die Nummer ist klar und deutlich, ohne zu schreien, auszusprechen."

Es dauerte eine Weile, bis sich die adäquate Benutzung der Sprech- und Ruhezelle bei der Bevölkerung durchgesetzt hatte. Oft gab es Beschwerden über Personen, die zu lange telefonierten, auch der Betrieb lief nicht ganz störungsfrei. Zudem häuften sich Fälle von Vandalismus und Münzdiebstahl, Obdachlose nächtigen in den Zellen. Bedauerliche Vorgänge, die die Verbreitung der Telefonzellen aber keineswegs verhinderten. In akustischer Hinsicht fungierten sie als Erziehungsinstitute, mit deren Hilfe man das nach bürgerlichen Moralvorstellungen richtige Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit lernen konnte.

Inbegriff von Fortschritt

Das Modell "Kiosk" eroberte die Straßen und Plätze von Wien: 1930 zählte man schon 1300 Telefonzellen, 1940 knapp über 2000. Schalldämpfung war nach wie vor eine zentrale Eigenschaft des boomenden Stadtmöbels, das als Inbegriff von Modernität und Fortschritt galt. Die Schriftstellerin Irmgard Keun brachte dies in der Erzählung "Die Brüllzelle" auf den Punkt. Star der beinahe in Doderer-Manier geschilderten Geschichte ist eine schalldicht abgeschlossene Telefonzelle, allerdings ohne Telefonapparat. Prominent aufgestellt im bürgerlichen Wohnzimmer, dient sie nur einem Zweck: Man kann in ihr "guten oder schlechten Gefühlen tönenden Ausdruck verleihen". Ein, so Keun augenzwinkernd, heilsamer "Ort für die seelische Verdauung", der das natürliche Brüllbedürfnis auf wirksame und für die Umwelt harmlose Weise befriedige.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die öffentlichen Fernsprecher ihre Hochblüte, private Telefonanschlüsse waren noch selten. In den 1960er Jahren zählte die Stadt mehr als 3000 Telefonzellen. Zwar war ihr Design transparenter und offener geworden, doch nach wie vor dienten sie als akustische Rückzugsorte. Auch die Kunst nahm sich ihrer an: Der junge Architekt Hans Hollein entwarf für die Pariser Biennale 1965 eine (nie realisierte) Telefonzelle als urbane Minimalbehausung inklusive TV-Gerät und sanitärer Einrichtung.

In den 1980ern rüstete man viele Telefonzellen auf Wertkarten um. Ihre Anzahl erreichte den Spitzenwert von rund 6000 Stück, ehe die Nutzung mit dem Aufkommen der Mobiltelefone rasant abnahm. Um weiterhin eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten, schrieb die sogenannte Universaldienstverordnung die Stückzahl mit dem Stand von 1999 gesetzlich fest. Heute gibt es noch rund 4100 Telefonzellen in Wien, in ganz Österreich sind es etwa 12.000 im Außenbereich aufgestellte öffentliche Sprechstellen.

Architektonisch hat sich das einst geschlossene Häuschen zu einer offene Koje entwickelt, die zumindest noch etwas Abgeschirmtheit vermittelt. Brüllen kann man mittlerweile auch ohne Zelle.

Peter Payer, Jg. 1962, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, im März erscheint sein neues Buch "Auf und Ab. Eine Kulturgeschichte des Aufzugs in Wien" (Brandstätter Verlag).