Frieden ohne Ruhe
Der große Krieg war nun wirklich zu Ende. "Endlich, endlich! Das wonach wir uns in 4 Jahren fern von allem, was uns lieb war, mit heißen Sinnen gesehnt haben, ist jetzt Wirklichkeit geworden!" Dies schrieb der Soldat Wolfgang Panzer am 10. November 1918, als der Waffenstillstand unmittelbar bevorstand, an seine Familie.
Der langersehnte Frieden war nun zwar da, aber Ruhe kehrte vorerst keine ein. Hunger, Kriegsmüdigkeit und politische Unzufriedenheit schlugen Anfang November 1918 in Deutschland in offenen Protest um. Der Matrosenaufstand, der Ende Oktober 1917 in Wilhelmshaven und Kiel begonnen hatte, weitete sich Anfang November 1918 zu einem rasch um sich greifenden Massenaufstand, ja, zu einer Revolution aus, die erst im Frühjahr 1919 abflaute. In Österreich hingegen ging der große Umbruch Ende 1918 zunächst weniger turbulent über die Bühne.
"Heute ist es wahr", schrieb der deutsche Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler am 9. November 1918 in sein Tagebuch. Und er fuhr fort: "Mittags nach 1 Uhr kam ich durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor, wo gerade die Flugblätter mit der Abdankung verteilt waren. Aus dem Tor zog ein Demonstrationszug. Ich trat mit ein. Ein alter Invalide trat an den Zug und rief: Ebert Reichskanzler! - weitersagen!"
An diesem 9. November 1918 war in der deutschen Hauptstadt die Republik ausgerufen worden. Und zugleich hatte die Revolution die Hauptstadt erreicht. Wenige Tage später, am 11. November 1918, musste auch in Österreich der Kaiser dem politischen Druck weichen und auf sein Amt verzichten (endgültig ins Ausland ging er erst am 24. März 1919). Am Tag darauf, am 12. November 1918, rief die Provisorische Nationalversammlung im Parlament in Wien mit großer Mehrheit die Republik "Deutschösterreich" aus.
Während es in Wien zunächst ruhig blieb, standen in Berlin einander bereits am ersten Tag der Republik Bewaffnete gegenüber: aufständische Soldaten und Arbeiter auf der einen Seite und regierungstreue Polizisten und Militärs auf der anderen Seite. Am 9. November schrieb Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch: "Die Arbeiterzüge, die Vormittag die Stadt durchzogen haben, haben Schilder vor sich hergetragen, auf denen gestanden hat: Brüder! Nicht schießen!" Geschossen wurde freilich von Anfang an. Die Unzufriedenheit der städtischen Bevölkerung und der heimkehrenden Soldaten war groß, die Erbitterung nach Jahren des Krieges und des Hungers ebenso. Sie entlud sich in Aufständen gegen die Verantwortlichen. Was Anfang und Mitte November als wilde, wenig koordinierte Unruhen begonnen hatte, weitete sich in Deutschland nach und nach zu heftigen bürgerkriegsartigen Kämpfen aus, die sich bis weit in den Frühsommer 1919 hinzogen. Geprägt waren diese turbulenten Monate von Streiks und immer wieder neu aufflackernden Straßenkämpfen.