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Die unbekannte Seuche X

Von Eva Stanzl

Wissen

Wissenschaftshistorikerin Laura Spinney warnt vor einer neuen Pandemie, die Millionen Menschenleben fordern könnte.


"Wiener Zeitung": In Ihrem Buch "Die Welt im Fieber" berichten Sie über die Spanische Grippe 1918-1920 als vielleicht größte menschliche Katastrophe der Geschichte. Die Pandemie infizierte 500 Millionen und tötete 50 bis 100 Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Warum verbreitete sich das Virus so schnell und flächendeckend?Laura Spinney: Grippeviren verändern sich häufig. Damals waren ihr natürliches Reservoir Wildvögel, heute ist es zunehmend auch Geflügel. Immer wieder können Grippekeime auf Menschen überspringen und dann die Fähigkeit entwickeln, sich von Mensch zu Mensch zu übertragen. Der Stamm von 1918 wurde unter anderem deswegen so virulent, weil er gleichwohl an den Menschen angepasst und ihm fremd war. Genetisch gesehen ähnelte er der Vogelgrippe, aber so wie die gewöhnliche Grippe ging er von Mensch zu Mensch. Hinzu kam, dass gegen Ende des Ersten Weltkriegs viele Menschen Hunger litten. Hunger kann die Mutation von Viren befördern. Truppen und Flüchtlinge waren unterwegs, Ärzte an der Front, die Infrastruktur war zusammengebrochen. All dies hemmte Reaktionen auf den Ausbruch.

Manche Experten erwarten mit 20-prozentiger Sicherheit eine zweite Pandemie noch in diesem Jahrhundert. Sie auch?

Eine zweite Pandemie in diesem Jahrhundert ist praktisch unvermeidbar und die Grippe stellt das größte Risiko dar. Ob eine oder 100 Millionen Menschen daran sterben, wird dann davon abhängen, ob sich die Welt im Krieg befindet und wie konsequent sich die Menschen impfen lassen. Die Weltbank rechnet damit, dass bei der nächsten Pandemie 33 Millionen Menschen sterben - eine erschütternde Zahl. Doch der Spanischen Grippe fielen noch mehr Menschen zum Opfer und damals war die Weltbevölkerung kleiner.

Hämorrhagische Fieber wie Ebola machen vielen Menschen mehr Angst als die Grippe. Warum sollte man sich gerade vor Husten, Schnupfen und Fieber fürchten?

1918 hatten die meisten Menschen Husten, Schnupfen und Fieber und wurden wieder gesund. Doch ein weitaus höherer Anteil war ernsthafter krank als bei vorherigen Grippewellen. Diese Patienten bekamen kaum Luft, wurden blau im Gesicht und bluteten aus Nase, Mund und Lungen. Irgendwann wurden ihre Körper schwarz, weswegen die Spanische Grippe auch mit Cholera, Typhus und der Pest verwechselt wurde. Die drei pandemischen Wellen waren um ein Viertel tödlicher als alle davor, doch nur zehn Prozent der Erkrankten verloren ihr Leben. An Ebola sterben 60 Prozent der Infizierten. Jedoch ist es leichter zu kontrollieren, weil es nicht über Sprühinfektionen, sondern über Körperflüssigkeiten übertragen wird. Wenn wir präventiv handeln und bei Ausbrüchen sofort vor Ort sind, wird es sich vermutlich nicht weltweit verbreiten.

Welche weiteren Keime müssen wir ernsthaft fürchten?

H5N1, eine gefährliche Form der Grippe, ist bisher immer wieder in Asien ausgebrochen. Zwar hat der Stamm derzeit noch nicht die Genetik, um sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Jedoch durchleben alle pandemischen Viren dieses Stadium in ihrer Evolution und mutieren danach zu hochansteckenden Keimen. Da H5N1 ebenso wie Ebola 60 Prozent der Infizierten tötet, ist es potenziell hochgefährlich. Es kann aber auch sein, dass es sich nicht mehr verändert.

Wie überschreiten Viren die Artengrenzen ihrer Wirte?

In Vögeln nisten sich Grippeviren im Magen-Darm-Trakt ein. Um in den Zellen unserer Atemwege andocken zu können, muss ein Antigen auf der Oberfläche des Virus die Struktur verändern. Dieser Prozess erfordert viele, viele Mutationen, mit wechselndem Erfolg. Das Virus, das am erfolgreichsten mutiert und sich an sein neues Umfeld anpasst, entwickelt dort wieder neue Strategien. Es muss somit eine Kaskade von Mutationen vollziehen.

Wie können wir verhindern, dass Viren pandemisch werden?

Das können wir nicht, aber wir können vorbauen. Etwa ist klar, dass die Massentierhaltung Pandemien fördert. Unter anderem in Asien sind Hühner in Geflügelfarmen im Grunde genetische Klone voneinander. Sie haben alle das gleiche Immunsystem - ein Schmelztiegel für Viren-Evolution! Keime können sich dort ohne Gegner durch die Herde wüten und neue Strategien ausprobieren. Die Parallelen zu den Soldaten in den Schützengräben 1918: Ein Virus, das sich frei von Wirt zu Wirt bewegt, fährt seine Virulenz zurück, damit der Wirt lange genug überlebt, um es verbreiten zu können. Aber wenn der Wirt sich kaum strecken kann, macht sich das Virus keine Umstände. Es tötet ihn und geht zum nächsten. Das virulente Virus wird mobil und evolutionärer Sieger.

Schlummert irgendwo eine neue, bedrohliche Infektionskrankheit?

"Disease X" (Seuche X, Anm.) ist eine Zoonose, die wir noch nicht kennen. Zoonosen überschreiten die Artengrenze. Sie werden immer häufiger, weil wir in neue Nischen vordringen, neue Tiere domestizieren, die Landwirtschaft und damit die Ökologie der Krankheiten verändern. "Diesease X" kennen wir zwar noch nicht. Aber sie könnte verheerend sein, weil das Immunsystem nicht vorbereitet ist. Das Nipah-Virus in Asien ist ein Kandidat. Es löst beim Menschen eine häufig tödliche Gehirnentzündung aus und wird durch Kontakt mit Körperflüssigkeiten infizierter Tiere und Menschen übertragen.

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