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Der Alb, den man Leben nennt

Von Erich Hackl

Wissen

"Brot für die Toten", der vergessene Roman des polnischen Autors Bogdan Wojdowski über Menschen im Warschauer Ghetto, gehörte auf Deutsch längst wieder aufgelegt.


Der Roman "Brot für die Toten" handelt von Leben und Sterben im Warschauer Ghetto, also einem der vielen Verbrechen, die Nazideutschland in Polen begangen hat, aber die Menge macht es nicht vergleichbar und auch nicht verwechselbar. Zweieinhalb Jahre lang wurden fast 500.000 Juden - Frauen, Männer und Kinder - auf einer Fläche von drei Quadratkilometern zusammengepfercht. Von Anfang an verfolgten die deutschen Behörden das Ziel, die Eingesperrten auszurotten, sei es durch Verhungernlassen oder durch Deportation in ein Vernichtungslager, in den meisten Fällen nach Treblinka, 80 Kilometer nordöstlich von Warschau.

Als Einzigem seiner Familie gelang dem Autor dieses Romans, Dawid Wojdowski, die Flucht aus dem Ghetto, das nach dem heldenhaften Aufstand vom Frühjahr 1943 endgültig zerstört wurde. Wojdowski änderte nach der Befreiung von der Naziherrschaft seinen jüdischen Vornamen auf Bogdan, als könnte er damit die inneren Stimmen loswerden, die ihm zuflüsterten: "Du lebst, also bist du schuldig." Da sie ihn weiterhin bedrängten, nahm er sich im April 1994, mit 63 Jahren, das Leben.

Surreale Wirkung

Die deutsche Übersetzung seines Romans erschien 1974 bei Volk und Welt, drei Jahre nach der Erstveröffentlichung in Polen, wurde jedoch außerhalb der DDR nicht wahrgenommen, obwohl mit Hanna Krall und Henryk Grynberg zwei prominente, im Westen auch unter Nichtlinken wohlgelittene Schriftsteller auf das Werk ihres Kollegen und Leidensgefährten hinwiesen. An dieser Ignoranz hat sich bis heute nichts geändert, was angesichts der moralischen Verpflichtung, "Brot für die Toten" in der Sprache der Mörder präsent zu halten, einigermaßen verwundert. Und auch weil der Roman - in der Wiedergabe ihrer Unterhaltungen - voller deutscher Wendungen und Sprachfetzen steckt, die in der eigenartigen Mischung aus Brutalität, Banalität und Sentimentalität eine beinahe surreale Wirkung entfalten.

Der US-amerikanischen Ausgabe des Romans aus dem Jahr 1997 steht ein Aufsatz Henryk Grynbergs mit dem Titel "Mein Bruder" voran. Darin heißt es: "Wojdowski war sechs Jahre älter, das heißt, er hatte viel mehr Erfahrung als ich, schlimme Erfahrungen, weshalb er jene Jahre auch anders erzählt hat. Auch unser gemeinsames Schicksal als Kinder des Holocaust ist für mich weniger traumatisch gewesen, weil ich nicht im Warschauer Ghetto war und deshalb weniger als er gesehen und gewusst habe. Wir haben beide überlebt, aber nicht ganz, und nicht auf dem gleichen Niveau, und später einen hohen Preis dafür bezahlt. Einen so hohen, dass mit der Zeit unsere Kräfte nachgelassen haben. Das ist es, was mit Piotr Rawicz, Primo Levi, Jerzy Kosiński passiert ist; das ist auch Wojdowski zugestoßen.

Eine Zeitlang erhielten wir Nahrungsmittel und Kleidungsstücke aus Amerika und anderen Ländern, deren Gewissenslage nicht ganz zu durchschauen war. Aber niemand dachte daran, uns psychologische Hilfe zu gewähren. Wir arrangierten uns so gut wie möglich und suchten Erlösung in der Selbstverteidigung (Israel) oder in der Flucht. Wir flohen in ferne Länder und vor der jüdischen Identität. Auch der Kommunismus war ein Fluchtversuch: Er versprach Gleichheit, Anerkennung, Internationalismus. Früher oder später erwiesen sich alle diese Ausflüchte als illusorisch. Von neuem stellte sich heraus, dass es unmöglich war, vor der eigenen Vergangenheit, vor sich selbst davonzulaufen. Unser Krieg hatte nicht 1945 geendet, und wir fielen immer noch in der Schlacht gegen einen überlegenen Feind. Wir leisteten Widerstand, wir ergaben uns nicht, aber neue dunkle Mächte sprangen den Dämonen unserer Vergangenheit bei. Die Zeit heilt keine Wunden; im Gegenteil, sie schmerzen mehr als früher, und unsere Einsamkeit ist größer, und größer ist auch das Bedürfnis nach Hilfe, die es für uns nicht gibt."

Wie schon erwähnt, sind die Eltern und alle übrigen Verwandten Wojdowskis umgekommen, vermutlich in Treblinka. Der Romanheld, der zwölfjährige David Fremde, ist sein Alter ego. Trotzdem ist "Brot für die Toten" viel mehr als eine romanhafte Chronik. Das erweist sich gleich zu Beginn, als die vom Großvater geleierte Schöpfungsgeschichte ("Kenan zeugte Mahalaleel, Mahalaleel zeugte Jared . . .") von einer anderen, bedrohlicheren Geschichte übertroffen wird: "Vor langer, langer Zeit, als David ganz klein war, hatte ihm die Mutter zugeraunt: ‚Es war einmal ein schwarzer, schwarzer Wald, und in dem schwarzen, schwarzen Wald, da war ein schwarzes, schwarzes Haus, und in dem schwarzen, schwarzen Haus, da war ein schwarzer, schwarzer Raum, und in dem schwarzen, schwarzen Raum, da war ein schwarzer, schwarzer Sarg, und in dem schwarzen, schwarzen Sarg lag eine schwarze, schwarze Leich’!‘ Das hörte er in der Abenddämmerung. Ihn schauderte. Unter seiner Hirnschale war ein Eisblock, und er spürte jedes Haar einzeln."

Um den Roman literarisch zuzuordnen, müsste man sich von Polen, überhaupt Europa abwenden und an das wunderbar Wirkliche von Schriftstellern wie Gabriel García Márquez oder Alejo Carpentier halten. Denn Wojdowski verknüpft ungemein präzise Beschreibungen alltäglicher Verrichtungen mit ebenso lapidar geschilderten Traumsequenzen, Szenen unerträglicher Grausamkeit - unerträglich, weil der Leser ahnt, dass sie sich genau so zugetragen haben - mit Gesten voller Zärtlichkeit, lange erzählerische Passagen mit Abschnitten, die nur aus Dialogen bestehen.

Würde der Figuren

Er handhabt die Sprache ebenso virtuos, wie ein Meisterjongleur Bälle oder Teller durch die Luft wirbelt, lenkt mit seiner Kunstfertigkeit jedoch nicht von den Menschen und ihren Umständen ab.

Auffallend ist, dass die handelnden Personen - der Junge, seine Eltern, Onkel Gedali, Professor Baum, der Kutscher Mordchaj Sukiennik, Naum, der Rikschafahrer, und Sura, die Trödlerin, dazu Banditen, Bettlerinnen und Sterbende allen Alters - ungeachtet des Elends und der Schwäche weiterhin miteinander reden und das, was ihnen zustößt, zu deuten versuchen.

Ihre Gespräche drehen sich um drei Fragen: wo sich etwas zu essen finden lässt; ob sie beisammenbleiben sollen, oder ob es besser ist, wenigstens den Jüngsten unter ihnen zu retten; ob sie sich mit Gottvertrauen bescheiden oder gegen den Feind erheben sollen. Sie träumen mitten im Terror und wissen beim Erwachen nicht, ob der Traum noch andauert oder sie schon in einem anderen sind, diesem "Albtraum, den man Leben nannte".

Natürlich verfügt Wojdowski über die Autorität dessen, der erlebt hat, was er zur Sprache bringt. Er weiß, worüber er schreibt. Aber die Authentizität seines Werkes ist weniger der eigenen Erfahrung als drei Eigenschaften geschuldet, die man weder mit Talent noch durch Fleiß, noch durch den Besuch einer Dichterschule erwirbt: Leidenschaft, Mitleid, Schönheit. Alle drei zusammen gewähren den Romanfiguren, was den realen Personen zu Lebzeiten abgesprochen worden ist, nämlich Würde.

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, ein Foto aus dem Warschauer Ghetto zu betrachten, das die eben erschienene spanische Ausgabe des Romans illustriert. Es gilt als Sinnbild der Shoa, und jede, jeder von uns hat es mehr als einmal gesehen: eine Schar Frauen und Halbwüchsige, die sich SS-Männern ergeben. Nun sollen sie zum Umschlagplatz am Nordrand des Ghettos getrieben werden, von wo die Transporte in die Vernichtungslager abgingen. In der Mitte des Fotos, allein, ein sieben- oder achtjähriger Junge, der als Zeichen der Unterwerfung seine Arme hebt. Er hat nackte Beine, unter dem Mantel ragt der Saum seiner kurzen Hose hervor. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze. Er hat Angst. Rechts von ihm ist ein SS-Mann zu sehen, mit einer Maschinenpistole im Anschlag und einer Motorradbrille um den Stahlhelm (siehe Abbildung).

Von diesem Mann wissen wir fast alles. Er ist als ältestes Kind eines Gastwirtehepaares 1912 im nordböhmischen Friedberg geboren, begann eine Lehre als Kellner, wurde Mitglied der Sudetendeutschen Partei, tat sich früh bei politischen Saalschlachten hervor. Nach dem deutschen Einmarsch trat er dem Sicherheitsdienst der SS bei und nahm an Spezialeinsätzen teil, das heißt, an Massenerschießungen von Zivilisten auf polnischem Gebiet und in Weißrussland. Unter den Bewohnern des Warschauer Ghettos war er einer der meistgefürchteten SS-Männer.

Sie nannten ihn "Frankenstein" und "Der Schlächter". Eine besondere Fähigkeit entwickelte er da-rin, Menschen aufzuspüren, die sich in den Ruinen des Ghettos versteckt hielten. Nach der Niederschlagung des Ghetto-, dann des Warschauer Aufstands wurde er zur Partisanenbekämpfung in der Slowakei eingesetzt.

Spuren der Täter

Vor Kriegsende flüchtete er in Zivilkleidung nach Wien, wurde von der Roten Armee gefangen genommen und nach Aserbaidschan verschickt, wo er in Steinbrüchen und im Straßenbau arbeitete, ehe er von sowjetischer in tschechoslowakische Gefangenschaft überstellt wurde. In Vitkovice wurde er Opfer eines schweren Grubenunfalls und blieb für den Rest seines Lebens entstellt.

Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ließ er sich in Thüringen nieder, gründete eine Familie und arbeitete als Bergmann im VEB Kaliwerk Volkenroda, schweigsam, diensteifrig und gehorsam, bis er Mitte der sechziger Jahre durch den Hinweis eines Hamburger Richters identifiziert und ausfindig gemacht werden konnte. Ein Erfurter Schöffengericht verurteilte ihn im März 1967 wegen zahlreicher Kriegsverbrechen und als Mitverantwortlichen für die Deportation von 300.000 Menschen zum Tode. Noch im selben Jahr wurde er in Leipzig hingerichtet. Sein Name war Josef Blösche.

Aber wir wissen nicht, wie der Junge neben ihm, auf dem Foto, geheißen hat. Wie fast immer hat der Täter mehr Spuren hinterlassen als sein Opfer. Wojdowski kehrt dieses Schema um. Schon deshalb sollte man seinen Roman auch auf Deutsch lesen können. Vielleicht findet sich doch ein Verlag, der ihn veröffentlichen will, und zwar in der vorliegenden Übersetzung von Henryk Bereska, auch wenn seit der DDR-Ausgabe 44 Jahre vergangen sind. Denn der 2005 verstorbene Bereska, über dessen Verdienste gesondert zu berichten wäre, hat die Vielschichtigkeit des Romans vom erhabenen Tonfall der Bibel über die Sprache der Gebildeten, Handwerker, Fuhrleute bis zum Rotwelsch der Diebe, Hausierer und Messerstecher im Deutschen bewahrt.

Bogdan Wojdowski
Brot für die Toten
Roman. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska. Verlag Volk und Welt, Berlin 1974, 409 Seiten. (Einzelne Exemplare antiquarisch noch erhältlich.)

Erich Hackl, geboren 1954, ist Schriftsteller und Übersetzer. Kommende Woche erscheint sein neues Buch, "Am Seil. Eine Heldengeschichte", bei Diogenes.