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"Im Anfang war die Milch"

Von Ernst Grabovszki

Wissen

Die Wienerin Anna Helene Mahler-Aszkanazy floh im Jahr 1938 nach Kanada. Ihrer Enkelin hinterließ sie ihre Autobiographie - ein bewegendes Zeitdokument.


Anna Helene Mahler-Aszkanazy.
© Archiv Jennifer Roosma

An ihrem 17. Geburtstag erhält Jennifer Dolman von ihrer Mutter ein besonderes Geschenk. Es ist in hellblaues Papier gewickelt. Langsam löst sie die Hülle - und worauf sie nun blickt, ist kein Parfum, keine Schallplatte und auch keine Pralinenschachtel. Sie schaut auf ein Typoskript, das ihr ihre Großmutter hinterlassen hat, die kurz vor Jennifers zwölftem Geburtstag gestorben war. Jennifer weiß noch nicht, dass die knapp hundert Seiten nur ein Teil eines viel umfangreicheren Textes sind, mit dem sie sich fortan immer wieder auseinandersetzen wird.

Heute ist sie 60 Jahre alt, und nach ihrer Heirat hat Jennifer Dolman den Namen ihres Mannes, Roosma, angenommen. Sie lebt mit ihrer Familie in Vancouver, Kanada. Den Text ihrer Großmutter hat sie ins Englische übersetzen lassen, sodass sie sich mit allem, was Anna Helene Aszkanazy, geborene Mahler, berichtet hat, eingehend beschäftigen konnte. Und noch immer stockt Jennifer bei der Lektüre der Atem, weil sie hautnah und authentisch einen Teil ihrer Familiengeschichte erfährt, die sich in den dunkelsten Zeiten des vergangenen Jahrhunderts abgespielt hat.

Ökofeministin

Die Jüdin Anna Helene Aszkanazy verlässt am 13. März 1938 ihre Geburtsstadt Wien, an ihrer Seite die beiden Töchter Leonore und Elisabeth. Sie ist 44 Jahre alt, verheiratet und interessiert sich für die Künste in einem Ausmaß, dass sie selbst zu schreiben beginnt. Sie verfasst Theaterstücke sowie die historische Novelle "The Empress of Byzantium" (1952) und sammelt Tausende Notizen für eine "Enzyklopädie der Frauen", die allerdings nie erscheint. Ihr Vater Sigmund Mahler war der Cousin des Komponisten Gustav Mahler.

Mit ihren Stücken hat Aszkanazy wenig Erfolg. "Neue Frauen" wird zwar bei S. Fischer unter Vertrag genommen, doch nach der Premiere in Berlin von der Kritik zerrissen. Auch für "Amour politique" und ein Stück über Baruch Spinoza interessieren sich die Bühnen nicht, sodass Aszkanazy das Theater bleiben lässt. Ihr Lebensthema wird vielmehr die Rolle der Frau in der Gesellschaft. "Meine Großmutter war eine Ökofeministin", erklärt Roosma. "Sie war überzeugt davon, dass jeder von dem leben sollte, was ihm das Land gab. Sie hatte eine Kuh, Bienen, baute Gemüse an, unterhielt ihre Freundinnen und half Flüchtlingen."

Und sie erkennt die Zeichen der Zeit früh: Nachdem sie 1932 Reden von Göring und Goebbels im Berliner Sportpalast gehört hat, warnt sie ihren Mann Simon, der Zinshäuser in Berlin besitzt, seine Geschäftstätigkeit in Deutschland zu beenden. Doch der wartet lieber ab.

Die Lage wird zusehends schwieriger: Die deutschen Konten der Aszkanazys sind gesperrt, Behebungen mit 500 Reichsmark pro Monat begrenzt, und das Geld über die Grenze nach Österreich zu schaffen ist verboten. Freunden und Bekannten wird bereits die Ausreise verweigert. Die Familie ist inzwischen in ein Landhaus in Altenmarkt umgezogen, stets bereit, alles zurückzulassen, um in die Neue Welt zu flüchten.

Im Herbst 1937 zieht sie wieder nach Wien, in die Neulinggasse 14, und versucht in den Alltag zurückzufinden, doch die politische Kulisse wird immer bedrohlicher. Plötzlich muss alles schnell gehen. Schuschnigg besucht Hitler in Berchtesgaden; die Westmächte, um deren Beistand sich Schuschnigg bemüht, stellen sich taub; der Weg für Hitler scheint offen.

Anna bemüht sich nun um Pässe und Visa für Nord- und Südamerika. Mit ihrem Mann streitet sie darüber, ob sie in die Schweiz oder nach England auswandern sollen. Anna möchte Wasser zwischen sich und Hitler wissen. Aus ihrem Bekanntenkreis erfährt sie: "Sie machen sich keinen Begriff, was diese Mörderhorden vorhaben! Was in Deutschland geschieht, ist nichts! Ich warne Sie, gehen Sie sofort, warten Sie nicht! Man hat Fürchterliches vor!"

Im Radio hören Anna und ihre Töchter die Ankündigung der Volksabstimmung, ob Österreich an Deutschland angeschlossen werden soll. Anna macht mit ihren und den Mitteln befreundeter Frauen gegen den "Anschluss" mobil und druckt in Windeseile ein Pamphlet. Vergebens, Schuschnigg tritt zurück und widerruft die Mobilisierung. Wieder muss die Familie rasch handeln: Die Pamphlete landen im Ofen, Anna packt das restliche Haushaltsgeld und ihren Schmuck in die Handtasche, nimmt die drei Pässe und drückt der Köchin die Wohnungsschlüssel in die Hand.

Fertig mit Wien

Um elf Uhr nachts soll der Vater aus Zürich am Westbahnhof ankommen. Von ihm erhoffen sie sich neue Informationen über den chaotischen Stand der Dinge, doch der Mann ist geradezu ahnungslos. "Es ist alles verloren. Schuschnigg ist zurückgetreten und die Nazis marschieren ein. Wir müssen sofort weg."

Die Familie beschließt noch in derselben Nacht, in die Schweiz zu flüchten. "Mir war’s doch, als hätte ich persönlich den Krieg verloren. Ich hatte doch gekämpft und musste nun jämmerlich Reißaus nehmen", schreibt Aszkanazy in ihren Erinnerungen: "Wäre es nicht um die Kinder gewesen, ich glaube, ich hätte mich umgebracht."

Am Bahnhof kauft der Vater nicht vier, sondern nur drei Zugtickets. Er will in Wien bleiben, um noch Hab und Gut einzupacken und später nachzukommen. Eine fatale Entscheidung: Simon Aszkanazy wird am 15. März 1938 verhaftet und stirbt drei Tage später im Polizeigefangenenhaus. Anna schreibt: "Als der Zug die Bahnhofshalle verließ, setzte ich mich nieder und sah nicht mehr zum Fenster hinaus. Ich war mit Wien fertig."

Anna Aszkanazy lässt sich mit ihren Töchtern aber nicht in der Schweiz, sondern in Kanada nieder. Schon bald fällt sie in ihrer neuen Umgebung auf. Am 29. Juli 1939 wird sie in der "Winnipeg Tribune" porträtiert. Der Beitrag hebt ihren Einsatz für Flüchtlinge hervor, denen sie die Einreise nach Kanada auf ihre Kosten ermöglicht habe. Sie sei groß in ihrer Statur, aber auch groß in Geist und Seele. (. . .). Trotz der Umstände, die sie nach Kanada brachten, sehe sie die positiven Seiten des Lebens. Vielleicht spielt ihre Absicht, anderen Flüchtlingen zu helfen und ihnen eine Unterkunft zu bieten, in dem Entschluss mit, ein Hotel zu mieten, das für sie und ihre beiden Töchter zu groß ist. Das Hotel betreibt sie auch, um zu Geld zu kommen. Ihre ersten Dollar verdient sie sich mit einem Wiener Mittagessen: gekochtes Kalbfleisch, Leberknödelsuppe und Apfelstrudel.

Gemeinsam mit den Flüchtlingen und ihren Töchtern fabriziert sie mit einfachen Mitteln Kleidung und Accessoires. Sie verkauft die Stücke unter dem Label "Old Vienna, B.C." so erfolgreich, dass sie zumindest das Auskommen finden. Leonore, die jüngere Tochter, wird zum Milchholen eingeteilt: Morgens geht sie in den Stall und melkt die Kuh. In Wien hatten ihre Töchter sogar Bedienstete, nun müssen sie selbst dafür sorgen, dass etwas auf den Tisch kommt.

"Fremde von Distinktion"

Sich an das neue Land zu gewöhnen, fällt Anna Aszkanazy anfangs nicht leicht. Im Jahr vor ihrer Flucht, 1937, hatte sie New York besucht: "Was mir außer dem unsäglichen Schmutz der Straßen, vor allem der düsteren, übelriechenden Nebenstraßen auffiel, war die Tatsache, dass fast keine davon gepflastert war. Man musste da durch fußhohen Dreck stapfen, dafür gab es ein dichtes Netz von elektrischen Kabeln hoch und nieder gespannt, dass man kaum das Licht durchsah, Eleganz und äußerster Dreck stießen hart aufeinander, untermischten sich, es gab kein Ausruhen, dauernd bekam man Tritte in den Magen." Zumindest in einer Hinsicht hat die kurzzeitige Neo-Amerikanerin Glück: "Da ich als ‚Fremde von Distinktion‘ und nicht als Flüchtling erschien, regnete es Einladungen von Amerikanern ins Haus, was den Flüchtlingen niemals geschah. Vor ihnen verschlossen sich alle einheimischen Häuser sorgfältig."

"Wenn es einen Einfluss gibt, dann über meine Mutter, die in jedem zweiten Satz das Wort Feministin gebrauchte", beschreibt Jennifer Roosma die Wirkung der Großmutter auf ihr eigenes Leben. Und wenn es eine Konstante in Anna Aszkanazys Leben gibt, dann ist es ihr konsequenter Einsatz für die Frauen und deren Zugang zu Politik und Bildung. Bereits in Wien ist sie seit 1928 Mitglied der Frauenliga für Frieden und Freiheit. Im Jahr 1931 gründet sie die Politische Schule für Frauen, die es sich zum Ziel setzt, Frauen auf politische Aufgaben vorzubereiten. Die 1941 in Kanada ins Leben gerufene Women’s School for Citizenship setzt diese Absichten fort. Zu ihren feministischen Bemühungen zählt auch ein Buch: "Der Mann ist dumm" hätte wohl interessante Einsichten in die männliche Psyche bieten können, doch über den Plan hinaus gedeiht das Projekt nicht.

Dummheit der Frauen

Die Dummheit des Mannes wurde aber von der Einfältigkeit der deutschen Frauen begleitet, zumindest aus der Sicht Aszkanazys während eines Besuchs des Königlichen Schauspielhauses in Potsdam 1936, wo ihr "die kuhhafte Ekelhaftigkeit und Dummheit der Frauen" auffällt. "Im Soroptimisten-Klub, nur wenige Jahre vorher, hatten die Frauen vor Geist, Witz und Eleganz gefunkelt. Nun war eine total andere Schicht obenauf, grobschlächtig, gemein, dumm und ich konnte es nicht fassen, wie ein solcher Wechsel in so kurzer Zeit durchgeführt werden konnte."

Anna Aszkanazy stirbt am 17. Mai 1970 in Kanada. "Das Wochenende, an dem sie starb, verbrachte ich mit meinen Geschwistern und Freunden auf einer Insel", erinnert sich Jennifer Roosma. "Als ich nachhause kam, sah ich einen Spiegel in meinem Zimmer hängen, und als wir zum Essen gingen, erzählte uns meine Mutter (. . .), dass Großmutter gestorben sei." Den Einfluss ihrer Großmutter spürt Roosma bis heute: "Nach der Lektüre ihrer Memoiren und in Anbetracht dessen, was sie erlebt und geleistet hat, suche ich nach einer Aufgabe, der ich meinen ganzen Einsatz widmen möchte. Ich denke beispielsweise an den Jemen und die Katastrophe, die dort passiert und über die kaum berichtet wird. Seit fünf Jahren verfolge ich den Israel-Palästina-Konflikt und arbeite mit Friedensgruppen."

In den 1930er Jahren schlägt der Soziologe Rudolf Goldscheid Aszkanazy vor, sie solle ihre Memoiren schreiben. Er empfiehlt ihr, wohl nicht ganz im Ernst, sie mit dem Satz "Im Anfang war die Milch" beginnen zu lassen. Rund 20 Jahre später macht sie sich an die Arbeit und hinterlässt einen Text, der die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ende der 1930er Jahre in Wien präzise, ernst, ironisch und immer aus der Sicht einer wachsamen, kritischen Zeitzeugin erzählt.

Die Autobiographie von Anna Helene Mahler-Aszkanazy erscheint im Frühjahr 2019 im Verlag danzig & unfried.

Ernst Grabovszki arbeitet als Verleger und Autor in Wien.