Zum Hauptinhalt springen

Sehnsucht nach dem Schönen

Von Ingeborg Waldinger

Wissen

Schriftsteller haben es gut: Sie können aus dem Vollen schöpfen, im Schönen wie im Schrecklichen. Denn die unglaublichsten Geschichten schreibt das Leben selbst, wie ein historischer Roman von Lukas Hartmann zeigt.


Karl Stauffer-Bern, Bildnis Lydia Welti-Escher, 1886. Kunsthaus Zürich, Leihgabe der Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern, 1941.
© Kunsthaus Zürich

Die reale Vorlage zu Lukas Hartmanns Roman "Ein Bild von Lydia" bildet eine Schweizer Tragödie. Hartmann erzählt das Drama der Lydia Welti-Escher (1858- 1891), Tochter des Schweizer Eisenbahnkönigs Alfred Escher und Ehefrau des Bundesrat-Sohnes Emil Welti. Der lässt seine Gemahlin von einem Schulfreund, dem Maler Karl Stauffer-Bern, porträtieren - und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn das Modell verliebt sich in den Meister. Und brennt mit ihm durch.

So etwas verzeiht "die Gesellschaft" nicht, schon gar nicht einer Frau. Man entledigt sich der Liebenden auf brutale Weise: sie steckt man ins Irrenhaus, ihn ins Gefängnis. Beide nehmen sich schlussendlich das Leben.

Die tragische Liaison lieferte den Stoff für mehrere Bücher, die Lukas Hartmann in einer Nachbemerkung zusammenfasst (siehe Informationen am Ende des Artikels). Fast zeitgleich mit dem Berner Erfolgsautor Hartmann griff auch die Berner Journalistin und Autorin Stef Stauffer das Drama auf: "Die Signora will allein sein" heißt ihr 2017 im Münster Verlag erschienener Roman, in dem sie sich - monologisierend - in Lydias Gefühlswelt versetzt.

Lukas Hartmann (bürgerlicher Name: Hans-Rudolf Lehmann) hingegen erzählt traditionell - und zwar aus der Perspektive von Luise. Sie war mehr als die Kammerjungfer der "Frau Lydia", wie sie ihre Dienstgeberin in vertraulichen Momenten nennen durfte. Und diese Momente häuften sich zusehends. Hartmann eröffnet seinen Roman mit Lydias Begräbnis. Es ist ein nasskalter Wintertag, als ein kleiner Trauerzug der einst reichsten Frau der Schweiz das letzte Geleit gibt. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, wurde der Öffentlichkeit ein falscher Beerdigungstermin genannt. Am Genfer Grab der Lydia Escher stehen: ihr geschiedener Ehemann Emil Welti und dessen einflussreicher Übervater, Lydias letzter Nachbar - und natürlich Luise.

Noch im Rahmen der Begräbnis-Szene erfährt der Leser den Grundriss des Dramas. Und aus Luisens Rückblick die Geschichte en détail. Auch das Dienstmädchen brauchte nicht erfunden zu werden: Marie Louise Gaugler wächst in Bergamo auf. Der frühe Tod des Vaters zwingt die Mutter samt Kinderschar zur Rückkehr in die Schweiz. Luise tritt in den Dienst des - kinderlosen - Ehepaars Welti-Escher, das in der weitläufigen Zürcher Villa Belvoir residiert.

Rasch wird sie mit der großen Welt vertraut - und mit den Seelennöten ihrer Dienstherrin. Denn die leidet unter der Scheinmoral der Haute Volée, und unter der Nüchternheit ihres Mannes. Dennoch hatte sie selbst die Heirat mit Welti durchgesetzt, gegen den Willen ihres Vaters. Ihr Kalkül, der Bund der Kinder würde den Zwist der Väter beenden, ging nicht auf. Alfred Escher starb vor Lydias Hochzeit.

Große Liebe geht anders. Die entflammt erst später, allerdings auf unstatthaftem Terrain. Denn die Grande Dame der Zürcher Gesellschaft begeht Ehebruch - mit dem Maler Karl Stauffer-Bern. Und genau hier, an diesem Punkt, belässt der Autor etwas im Vagen. Wann eigentlich verliebt sich Stauffer, dieser launenhafte, trinkfreudige Lebemann, in Lydia? Sein Benehmen während der langen Zeit, die er als Gast im Belvoir zubringt, deutet eher auf strategische Schmeicheleien hin denn auf feurige Gefühle für die Hausherrin. Das Bild, das er von Lydia fertigt, stellt ihn anfangs nicht zufrieden, genauer: das Gesicht. Er wischt es mit Terpentin aus, malt es neu. "Dich sollte ich malen, nicht sie", raunt der "Kraftkerl mit den sanften Seiten" der blutjungen Luise zu.

Gekaufte Gutachten

Dass es Lydia bei ihrem ungestillten Bedürfnis nach Leidenschaft und kunstsinniger Gesellschaft in die Arme des so jovialen wie genialen Künstlers treiben musste, weiß Lukas Hartmann überzeugend zu vermitteln. Sexualität spart er aber dezent aus. Vielleicht ging es in dieser Beziehung ja auch um ein "edleres" Movens: die Sehnsucht nach dem Schönen. Als Stauffer - finanziell unterstützt vom EhepaarWelti-Escher - zu Studienzwecken nach Rom reist, bleibt Lydia nur der Korrespondenzweg zu ihrem "wichtigen Seelengefährten", dem sie gerne folgen würde.

Doch auch Ehemann Welti zieht es fort aus Zürich, wenngleich aus anderen Gründen. Und so reist das Paar nach Florenz. Stauffer hat unterdessen hochfliegende Pläne. Er will - mit dem Geld der Mäzenin - einen fantastischen Kunsttempel in Neapel bauen. Und Lydia hängt an seinen Lippen. Als ihr Mann Florenz aus geschäftlichen Gründen verlässt, brechen bei Lydia alle Dämme. Sie will mit Stauffer ein neues Leben beginnen, geht mit ihm nach Rom. Emil Weltis Schmach ist groß, der Arm seines Vaters lang. Gekaufte Gutachten bringen Lydia in die Irrenanstalt; falsche Anschuldigungen Stauffer hinter Gitter. Alle "Beweise" entpuppen sich als üble Erfindungen, die Weggesperrten kommen frei.

Lydia, nunmehr geschieden, findet als "Madame Escher" ihre letzte Zuflucht in Genf, wo sie, krisengeschüttelt, ihre "bodenlose Liebe" für Stauffer zu unterdrücken sucht. Vergeblich.

Höhen und Tiefen

Der Maler ist selbst am Ende, nicht nur beruflich. In Florenz wählt er den Freitod durch Vergiften. Lydia Escher verkraftet die Nachricht nicht. Noch im selben Jahr setzt sie ihrem Leben ein Ende - durch Öffnen des Gashahns ihrer Villa.

Lukas Hartmann beschränkt sich auf die letzten Lebensjahre der unseligen Millionenerbin. Auf die Zeit ihrer frostigen Ehe mit Emil Welti, die Amour fou mit Stauffer, den gesellschaftlichen Bann und psychischen Zusammenbruch. Sein "Bild von Lydia" wird den inneren Nöten einer um Emanzipation ringenden Patrizierin des Fin de Siècle gerecht. Ihrem Freiheitsdrang und Eigensinn, ihrer Sensibilität und Kunstbegeisterung, ihrem Patriotismus - und ihrer Ohnmacht gegenüber denPatriarchen.

Am nächsten erlebt naturgemäß Luise all diese Höhen und Tiefen mit. Sie weicht niemals von der Seite ihrer Herrin. Auch wenn dies ihr eigenes Leben, ihre Zukunft mit Henri, dem Kellner vom Café am Genfersee, gefährdet - und sie selbst zur Gefangenen macht.

Denn stets dann, wenn sich Lydias Radius extrem verengt - in der Psychiatrie, auf Kur oder in jenen Phasen, da ihr die Kraft zum Verlassen des Hauses oder gar des Betts fehlt - potenziert sich der Anwesenheitsdruck auf die Kammerjungfer. Lukas Hartmann versteht es, diese Szenen als beklemmendes Kammerspiel zu gestalten. Luisens Vita gibt er dazwischen breiten Raum.

Gleichzeitig setzt der Autor dem Lebenswerk der Lydia Welti-Escher ein würdiges Denkmal: Mit letzter Energie und dem verbliebenen Vermögen (vier Fünftel gingen durch die Scheidung an ihren Mann) errichtet sie im Jahr 1890 eine Kunststiftung - und nennt sie, unter Vermeidung ihres belasteten Namens, Gottfried-Keller-Stiftung: Der Schweizer Schriftsteller und Politiker war im Belvoir, dem Familiensitz der Escher, gern gesehener Gast und Lydia ein väterlicher Freund gewesen. Sein Name und Werk blitzen im Roman wiederholt auf.

Empörende Fakten

Die Stiftung fördert allerdings nicht - wie der Name vermuten ließe - literarische Werke, sondern bildende Kunst. Indem Lydia Welti-Escher ihr immer noch beachtliches Restvermögen (an die fünf Millionen Franken) gleichsam der Eidgenossenschaft schenkte, sah sie sich in einer Linie mit ihrem Vater, der den Gotthardtunnel als sein "patriotisches" Werk verstanden wissen wollte.

Was der Romancier nicht mehr erzählt: das von der Stifterin eingebrachte Kapital schmolz durch staatliche Misswirtschaft auf einen skandalös winzigen Rest zusammen. Aber auch ohne diese letzte Facette einer großen Tragödie bietet Hartmanns historischer Roman jede Menge empörende Fakten - und eine spannende Lektüre.

Lukas Hartmann
Ein Bild von Lydia
Roman. Diogenes, Zürich 2018, 368 Seiten, 24,70 Euro.

Informationen und Quellen:
Wesentliches zum Faktengerüst seines Romans "Ein Bild von Lydia" haben, so Lukas Hartmann, die beiden Sachbücher des Historikers Joseph Jung beigetragen:

"Lydia Welti-Escher (1858- 1891)", Biographie, NZZ Verlag und Alfred-Escher-Stiftung, Zürich 2009, und das Portrait
"Alfred Escher (1819-1882). Aufstieg, Macht, Tragik", NZZ Verlag, 2007.

Als besondere Inspirationsquelle zitiert Hartmann ferner: Willi Wottrong: "Lydia Welti-Escher. Eine Frau in der Belle Époque", Elster Verlag, Zürich 2014,

Bernhard von Arx: "Karl Stauffer und Lydia Welti-Escher, Chronik eines Skandals", Zytglogge Verlag, Bern 1991,

Otto Brahm: "Karl Stauffer-Bern. Sein Leben, seine Briefe, seine Gedichte". Stuttgart 1992 (keine Verlagsangabe).