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"Gesteigerte Augenblicke"

Von Andreas Maier

Wissen

Anlässlich der Straßen-WM in Tirol ein Rückblick auf die Geschichte des Radsports in Österreich, wo es in Wien zur Jahrhundertwende bereits 300 Radclubs gab.


"Wenn man uns das vor zehn Jahren gesagt hätte - nein, noch vor fünf oder drei oder zwei Jahren": So begann Theodor Herzl 1896 ein leidenschaftliches Plädoyer für das Radfahren. Es wurde als "allzu muntere Leibesübung junger Burschen oder lächerlicher Sportsnarren" gesehen, wie der Publizist und Begründer des Zionismus über den Einzug des "Bicycle" in Österreich schrieb. Der Anfang des Radfahrens, das war eine verstörende Innovation und ein unglaublicher Boom.

Kontroversen zieht das alltägliche Radfahren bis heute auf sich, denn das Tempo der Radfahrer scheint zu schnell für Fußgänger, zu langsam für Autofahrer und zu wenig beschaulich für Naturliebhaber. Radfahrer bewegen sich in Räumen, die vielfach beansprucht werden - in der Stadt genauso wie im alpinen Gelände.

In sportlicher Sicht bietet die Gegenwart mindestens dreifachen Anlass für eine Ausfahrt in die Geschichte des Radsports: Eine neue Generation österreichischer Profis zeigt mit starken Leistungen wie dem siebten Gesamtrang beim Giro d’Italia des Niederösterreichers Patrick Konrad auf; von 22. bis. 30. September findet in Tirol die Straßen Radweltmeisterschaft statt - nach Villach 1987 und Salzburg 2006 bereits die dritte in Österreich; und die Österreich Rundfahrt feierte im Juli ihr 70. Jubiläum.

Zwei weiter zurück liegende Etappen einer historischen Radtour ragen aber besonders heraus: die Anfangszeit des modernen Sports ab etwa 1870 und die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. In beiden Phasen war der Radsport in Österreich auf eine Weise präsent, wie man sich das heute kaum mehr vorstellen kann.

Erster Radverein 1869

Als das, was wir heute unter Sport verstehen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Großbritannien ausgehend am europäischen Kontinent einrollte, war das Radfahren in Österreich eine der auffälligsten Erscheinungen. Der erste Radverein, der "Wiener Vélocipède-Club", wurde bereits 1869 gegründet - 16 Jahre vor dem ersten österreichischen Tennisclub, 22 Jahre vor dem ersten Skiclub und 25 Jahre vor dem ersten Fußballclub. Im Wien der Monarchie waren um die Jahrhundertwende mehr als 300 (!) Radclubs und mehrere Spezialzeitschriften etabliert. Über 30 Vereine gab es in Graz, einer weiteren frühen Hochburg des Radfahrens. Hier wurde 1893 auch der erste Radclub für Frauen in der k.u.k. Monarchie gegründet, was einen Schritt weiblicher Selbstbestimmung in feineren Kreisen bedeutete. Denn Radfahren war in dieser Gründerzeit ein Vergnügen für Wohlhabende. Ein Rad kostete 1895 rund die Hälfte des Jahreseinkommens einer Arbeiterfamilie.

Der bisher einzige österreichische Olympiasieg im Radsport datiert aus dieser Frühzeit des Sports. Adolf Schmal holte bei der modernen Olympiapremiere in Athen 1896 Gold im 12-Stunden-Rennen. Er legte dabei 314,997 Kilometer zurück. Radsport-Events in Österreich lockten schon davor die Massen an: die Semmering Bergmeisterschaft in den Jahren 1886 bis 1889 war sehr beliebt, ebenso Bahnrennen in Wien und Graz und das "Distanz-Radfahren Wien - Berlin" über 582 Kilometer.

Der frühe Boom des Radsports in Österreich bot durch die entstandenen Radbahnen auch eine infrastrukturelle Basis für die später gestartete Leichtathletik. Der deutsche Sporthistoriker Hajo Bernett erkennt eine "pragmatischen Bindung" zwischen diesen Sportarten. So fand 1897 das erste österreichische Leichtathletik-Meeting in Wien auf einer Radbahn statt.

Radfahren war neu. Es löste Erwartungen und Verunsicherungen aus. "Schon ist klar, wie das Fahrrad gewaltig auf die Zustände der Menschen einwirken, wie es das Aussehen der Städte und viele Bedingungen unseres Lebens verändern muss", schrieb Theodor Herzl in seinem Rad-Essay, der prominent auf der Titelseite der "Neuen Freien Presse" begann. Er sah im Radfahren einen "großartigen Umwandlungsprozeß". Radfahren wurde von den Wiener Behörden zunächst streng reglementiert. Man brauchte eine Radfahrprüfung, ein Nummernschild und einen "Erlaubnis-Schein" zum nicht gerade günstigen Preis von einem Gulden.

Ähnlich wie heute über elektronisch betriebene Fahrzeuge diskutiert wird, war damals die gefährliche Lautlosigkeit des Fahrrades ein Thema. Pferde und Verbrennungsmotoren waren zweifellos deutlicher zu hören. Ab 1897 wurde das Fahrrad auf den Straßen Wiens schließlich allgemein erlaubt und als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt.

Die zu dieser Zeit aufkommende Massenproduktion machte Räder für breite Schichten erschwinglich - und damit zum Vehikel der Alltagsveränderung, auch mit politischen Implikationen. Der Weg zur und von der Arbeit konnte schneller zurückgelegt werden. Der 1898 gegründete "Verband der Arbeiter Radfahrer-Vereine Österreich", ein Vorläufer des heutigen ARBÖ, vereinte 1914 in Österreich-Ungarn nicht weniger als 423 Vereine mit 24.000 Mitgliedern. Gemeinsame Wochenendfahrten aufs Land - sportliche Wettkämpfe wurden abgelehnt - brachten einen Geschmack von Unabhängigkeit und waren auch Träger der politischen Bildung in der Arbeiterbewegung.

Bulla und Dusika

Spitzensportlich gab es nach dem Olympiasieg in Athen bis in die 1930er Jahre wenig Erfolge für österreichische Fahrer. 1931 sorgte jedoch Max Bulla als Sieger der Tour de Suisse für Aufsehen. Zwei Jahre später konnte er die "Touristenklasse" der Tour de France für sich entscheiden. Auch bei der Vuelta holte er Etappensiege. Franz "Ferry" Dusika, bis heute aufgrund seiner NS-Nähe umstrittener Namensgeber der von Radfahrern, Turnern und Leichtathleten genutzten Sporthalle in Wien, erreichte 1932 das Sprint-Semifinale bei der WM in Rom.

Ein bis heute wohl unerreichtes Hoch erlebte der Radsport in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis etwa 1950. Ebenso wie Fußball und Boxen war Radfahren in dieser Zeit äußerst populär. Hart kämpfende Athleten repräsentierten den Geist des Wiederaufbaus. Das Zuschauerinteresse an Sportereignissen und die Faszination dafür waren in dieser Zeit auf einem Maximum. Die willkommene Ablenkung vom tristen Alltag und mangelnde leistbare Freizeitalternativen, abgesehen vom Kino, waren die Hauptgründe dafür.

In dieser Phase traf der Radsport einen Nerv der Zeit. Schon im Juli 1945 wurde in Wien das erste Rennen veranstaltet. Prägend in mehrfacher Hinsicht war die Austragung des Bewerbes "Quer durch Österreich" 1947 und 1948. Veranstaltet von zwei von den Franzosen in Wien herausgegebenen Zeitungen, führte die Fahrt über vier Etappen von Bregenz nach Wien. Nach polizeilichen Schätzungen war beim Finale in Wien vom Westen der Stadt bis ins Ziel am Rathausplatz die unglaubliche Zahl von 150.000 bis 180.000 Zuschauern auf den Beinen, wie in der Zeitschrift "Wiener Sport" zu lesen war. "Eine vieltausendköpfige Menschenmenge" auf der Ringstraße beschrieb die "Wiener Zeitung" in ihrem Bericht vom 15. Juni 1947.

Die erste Österreich Rundfahrt Ende Juli 1949 vergrößerte die Strahlkraft weiter. Die Tour führte von Wien ausgehend über 1262 Kilometer durch sieben Bundesländer. Es ging nach Graz, Klagenfurt, Lienz, über den Großglockner nach Zell am See, Innsbruck, Salzburg, Linz und als Schlussetappe auf der B1 von Linz wieder nach Wien.

Sportlich und mentalitätsgeschichtlich war diese erste Auflage ein Meilenstein, wie der Wiener Kulturwissenschafter Mat- thias Marschik in seinen Arbeiten hervorhebt. Die Durchführung war ein Leistungsausweis für das Land. Überall war das Publikumsinteresse enorm. Medien schickten Sonderberichterstatter zur Tour. Der Sport fungierte als Generator eines damals nur gering ausgeprägten Österreichbewusstseins. Das befreite / besetzte Österreich, getrennt durch streng gezogene und kontrollierte Zonengrenzen, wurde ein tatsächlich erfahrbares Territorium.

Der Staat, dessen Zukunft noch unklar war, wurde als etwas Zusammengehöriges erfasst. Die Radsportler haben das Zentrum und die Peripherie, Stadt und Land, Wien und den Alpenraum verbunden. Der Großglockner wurde zu einem Mythos, die Überquerung sah man als beinahe irreale Leistung. "Noch immer gab es viele, die bezweifelten, daß die Rennfahrer bis in die hochalpinen Regionen fahrend gelangen könnten", schrieb die "Arbeiter-Zeitung" am 27. Juli 1949 über die Glockner-Etappe.

Legende Menapace

Der Sieger an diesem Tag und auch in der Gesamtwertung der ersten Rundfahrt ist heute eine österreichische Radsportlegende: Richard Menapace. "Er fuhr ein wie eine Majestät. Vom Rand der großen Stadt Wien standen die Menschen Spalier", hieß in der "Sport-Schau" über die Schlussetappe, die Menapace nach einer 160 Kilometer Solofahrt für sich entschied. "Seit den Zeiten Uridils und Sindelars hat kein österreichischer Sportsmann so viel Ehren einheimsen können", schrieb das "Tagblatt" über den Radstar.

"Die Begeisterung in Wien war grenzenlos, der sportliche Patriotismus schlug hohe Wellen. Ich glaube, daß selbst die italienische Begeisterung im Giro an diesem Tag durch die allgemeine Anteilnahme Wiens übertroffen wurde", urteilt der Sieger in seinem Buch "Richard Menapace erzählt" aus 1951. Dass der aus Südtirol stammende Triumphator zwei Jahre vor dem Tour-Sieg noch als Italiener seine Rennen in Österreich bestritten hatte, tat dem Jubel keinen Abbruch. Sein Sieg mit Rekordvorsprung von 38:46 Minuten, eine österreichische Fahrerlizenz, das Bedürfnis nach Identifikationsfiguren und ein weiterer Sieg bei der Rundfahrt 1950 machten ihn zu einem vielfach ausgezeichneten Sportidol.

Auf Dauer ist Österreich allerdings nie eine Radnation geworden - wie etwa Italien. In der alltäglichen Mobilität waren Wien und Graz nie Fahrrad-Metropolen wie Amsterdam oder Kopenhagen. Im Tourismus und als Freizeitaktivität ist Radfahren aber auch heute sehr beliebt. Ob am E-Bike oder am Rennrad, es gilt im besten Fall immer noch, was Theodor Herzl 1896 schrieb: "Die Fahrt besteht aus gesteigerten Augenblicken."

Andreas Maier, geboren 1972, lebt in Wien. Medienverantwortlicher beim Vienna City Marathon. Chefredakteur Laufmagazin "Run Up", Autor des Buches "Franz Stampfl – Trainergenie und Weltbürger" (SportImPuls, 2013).