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"Der Dritte Tempel ist in Gefahr"

Von Rolf Steininger

Wissen

Vor 45 Jahren begann mit einem syrisch-ägyptischen Überraschungsangriff auf israelische Stellungen der Jom-Kippur-Krieg.


Am 6. Oktober 1973, Samstag, Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, griffen ägyptische und syrische Truppen in einer koordinierten Aktion gegen 14 Uhr israelische Stellungen an zwei Fronten gleichzeitig an: am Suezkanal und auf den Golanhöhen.

Im Gefühl des Sieges von 1967 wurde Israel von dem Angriff vollkommen überrascht. Der Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, Zvi Zamir, hatte dafür später folgende Erklärung: "Wir haben einfach nicht geglaubt, dass die Araber das konnten. Wir haben sie verachtet." Weder der Mossad noch AMAN, der wichtigere militärische Geheimdienst, hatten die Gefahr kommen sehen.

Die Syrer verfügten über 930 Panzer, 930 Geschütze und 30 SAM- Raketenbatterien, dazu zwei Panzerdivisionen mit 460 Panzern in Reserve. Dem standen nur 177 israelische Panzer gegenüber! Am Vormittag des 7. Oktober hatten die syrischen Verbände die Verteidigungslinie auf den Golanhöhen durchbrochen und stießen ins Jordantal vor. Verteidigungsminister Moshe Dajan beschrieb die syrischen Soldaten später so: "Sie kämpften besser als 1967, sie waren entschlossen und fanatisch. Für sie war es wie ein Heiliger Krieg."

"Wie in alten Zeiten"

Israel verlor 100 Panzer, die restlichen hatten keine Munition mehr. "Der Dritte Tempel [der Staat Israel] ist in Gefahr", so Dajan zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe, General Benny Peled. "Im Sinai gibt es nur Sand, hier [auf dem Golan und dem Jordantal] stehen unsere

Häuser." Die Lage war ernst. Wie ernst, macht der Befehl von Ministerpräsidentin Golda Meir deutlich, 13 Jericho-Raketen - Reichweite 500 km - mit Atombomben (Sprengkraft jeweils 20 Kilotonnen TNT; die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen) zu bestücken und startklar zu machen.

Die Lage an der Suezfront war genauso katastrophal wie auf dem Golan. In der ersten Minute ihres Angriffs hatten die Ägypter 10.500 Granaten auf die Israelis gefeuert und gleichzeitig mit Hochdruckwasserpumpen Schneisen in den zehn Meter hohen, zumeist aus Sand bestehenden Wall für einen Durchbruch geschossen. Auf elf Pontonbrücken hatten sie anschließend den Kanal überquert. Am 7. Oktober befanden sich 100.000 Soldaten, 1020 Panzer und 13.500 Militärfahrzeuge auf dem Ostufer und stießen unter dem Schutz ihrer von den Sowjets gelieferten SAM-Raketen 20 km vor.

Eine israelische Gegenoffensive am 8. Oktober, Montag, scheiterte und wurde zu einem "Albtraum für jede Panzerbesatzung", wie General Ariel Sharon das Desaster beschrieb. Hunderte Soldaten fielen, es gab zahlreiche Gefangene, 400 Panzer und 49 Flugzeuge, davon 14 Phantomjäger, gingen verloren.

In Washington fragte Außenminister Henry Kissinger den israelischen Botschafter Simcha Dinitz am 9. Oktober ungläubig: "Erklären Sie mir bitte, wie 400 Panzer an die Ägypter verloren gehen konnten?" Dinitz bat dringend um amerikanische Waffen. Kissinger: "Setzt ein, was ihr habt. Wir werden alles ersetzen."

Am 12. Oktober entschied sich US-Präsident Nixon für eine massive Luftbrücke: 25 Großraumflugzeuge flogen nun täglich 1000 Tonnen Kriegsmaterial nach Israel. Kissinger intern: "Die Kämpfe müssen weitergehen, damit die Araber und nicht wir um einen Waffenstillstand bitten."

Dann machten Ägyptens Militärs im Gefühl des Sieges einen schwerwiegenden Fehler: Ihre Panzer stießen weiter nach Osten vor und verließen damit den 30- km-Schutzschirm der SAM-Raketen. Mit katastrophalen Folgen. Auf 1000 ägyptische Panzer warteten jetzt 750 israelische.

Es kam zur größten Panzerschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg, die zu einer schweren Niederlage der Ägypter führte: am 14. Oktober hatten sie 250 Panzer verloren, die Israelis nur 20. Hunderte ihrer Soldaten waren tot. Israels ehemaliger Generalstabschef Bar-Lev kommentierte das so: "Es war wie in alten Zeiten." Die Israelis übernahmen nun die Initiative. Am 16. Oktober überquerten sie unter Führung von Ariel Sharon den Suezkanal und erweiterten in den nächsten Tagen ihren Brückenkopf. Wenig später standen sie zum Entsetzen der Ägypter 70 km vor Kairo. Auf dem Ostufer waren die Israelis dabei, die 3. ägyptische Armee - 20.000 Mann - einzukesseln.

Moskaus Parteichef Leonid Breschnew wies in dieser Situa- tion in einem dringenden Schreiben an Nixon auf die Verantwortung der beiden Großmächte hin, die Dinge "nicht außer Kontrolle geraten zu lassen", und bat ihn, Kissinger nach Moskau zu entsenden, um dort einen Waffenstillstand auszuarbeiten. Noch während Kissinger in Moskau war, "bettelte" (Kissinger) Sadat geradezu um sofortigen Waffenstillstand, während Kissinger Zeit für die Israelis gewinnen wollte. Intern machte er klar: "Wir haben es nicht so eilig wie die Sowjets."

Die Einigung in Moskau wurde am 22. Oktober um 00.52 Uhr als Resolution 338 vom UNO-Sicherheitsrat angenommen. Zwölf Stunden später sollte der Waffenstillstand in Kraft treten. Die Kriegsparteien wurden aufgefordert, Verhandlungen für einen "gerechten und dauerhaften Frieden" im Nahen Osten zu beginnen.

Waffenstillstand

Der Waffenstillstand war noch nicht in Kraft getreten, da wurde er schon gebrochen. Die israelischen Truppen auf der Westseite des Kanals wurden massiv verstärkt, gleichzeitig die 3. ägyptische Armee vollständig eingekesselt. Kissinger hatte Meir versichert: "Wenn die israelischen Truppen in der Nacht agieren, während ich im Flugzeug sitze, wird es keinen lauten Protest aus Washington geben." Moskau sah das anders. Breschnew jetzt: "Kissinger hat uns zum Narren gehalten und einen Deal mit Tel Aviv ausgehandelt." Er sprach von "Verrat" und verlangte von Nixon eine sofortige Aktion gegen Israel. Die erfolgte dann auch. Kissinger forderte Tel Aviv jetzt auf, den Waffenstillstand einzuhalten, der mit der neuen UNO-Resolution 339 am 23. Oktober bestätigt wurde und am 24. Oktober in Kraft treten sollte - und anschließend wieder gebrochen wurde.

Diesmal entschloss sich Moskau, so Kissinger, "es auf eine entscheidende Kraftprobe ankommen zu lassen". Breschnew schlug jetzt vor (Kissinger: "Praktisch ein Ultimatum"), dass sowjetische und amerikanische Streitkräfte gemeinsam für die Einhaltung des Waffenstillstands sorgen sollten. Würde Washington ablehnen, so Breschnews Drohung, würde Moskau allein handeln und mit Truppen im Nahen Osten intervenieren. Sieben sowjetische Luftlandedivisionen - 50.000 Mann - befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Alarmbereitschaft, 85 sowjetische Schiffe hatten Kurs auf Alexandria genommen.

Für Kissinger war klar, wie er intern betonte: "Wir müssen in den Ring steigen." Am 25. Oktober riefen die USA für ihre Truppen weltweit die Alarmstufe DEFCON 3 aus (erhöhte Alarmbereitschaft; DEFCON 2: Angriff steht unmittelbar bevor, DEFCON 1: Krieg) und bereiteten gleichzeitig den Einsatz von Atomwaffen vor.

Im Schreiben an Breschnew lehnte Nixon dessen "Ultimatum" ab und schlug stattdessen eine multilaterale Friedenstruppe der UNO vor, die den Waffenstillstand überwachen sollte. Die Zusammensetzung sollte UNO-Generalsekretär Waldheim überlassen bleiben. Breschnew stimmte zu. Das Ergebnis war die UNO-Resolution 340, die vom Sicherheitsrat am 25. Oktober beschlossen wurde. Der Jom-Kippur-Krieg war damit offiziell zu Ende.

Noch aber gab es die 3. ägyptische Armee, die Israel eingekesselt hatte und zerschlagen wollte. Für die USA war das nicht akzeptabel, wollte man nicht Sadat als möglichen Gesprächspartner verlieren. Kissinger machte gegenüber dem israelischen Botschafter unmissverständlich klar: "Wir werden das nicht zulassen. Auch die Sowjets werden so etwas nicht hinnehmen."

Würde Israel weiterhin die Versorgung der Armee verhindern, würde dies von der 7. US-Flotte übernommen. Das wirkte. Zum ersten Mal seit 1948 überhaupt sprachen dann, auf Druck der USA, am 28. Oktober Ägypter und Israelis miteinander: die Generäle Mohamad el-Gamasy und Aharon Yariv am berühmten Kilometer 101 der Straße von Kairo nach Suez.

Siedlungsbau

Was bleibt als Fazit? Zunächst: Ägypten hatte 2000, Syrien 3000 Tote zu beklagen, Israel 2521. Eine Untersuchungskommission machte später Israels Generalstabschef Elazar für das Desaster verantwortlich und verschonte Dajan und Meir, die dann aber auf Druck der Öffentlichkeit zurücktraten. Die Arbeiterpartei verlor massiv an Vertrauen, das auch Meirs Nachfolger, Yitzak Rabin, der Sieger des Sechstagekrieges, nicht mehr wiederherstellen konnte: 1977 kam die rechte Likudpartei unter Menachem Begin an die Macht und begann mit einem massiven Siedlungsbau in den besetzten Gebieten.

Der Krieg hatte im Übrigen gezeigt, dass Israels Armee verwundbar war - in erster Linie aufgrund von Überheblichkeit gegenüber den Arabern seit dem Sechstagekrieg 1967. Durch die militärischen Erfolge der Ägypter und Syrer war die in jenem Krieg verlorengegangene "arabische Ehre" wiederhergestellt worden. Aber es war auch klar geworden, dass eine Veränderung der Lage und die Rückgewinnung besetzter Gebiete nur auf dem Verhandlungswege zu erreichen waren. Und es galt von nun an, was Kissinger in seinen Erinnerungen so formulierte: "Amerika war zum entscheidenden Faktor in der Nahost-Politik geworden." Und von nun an definitiv zur Schutzmacht Israels. Gleichzeitig bewegte sich Sadat auf die USA zu.

Es blieb dennoch viel zu tun. Nach dem Ende der Kampfhandlungen begann Kissinger das, was als "Shuttle-Diplomatie" in die Geschichte eingegangen ist: seine Reisen zwischen Kairo, Tel Aviv und Damaskus. Das Ziel dieser Politik formulierte Kissinger damals in einer geheimen Sitzung so: "Wir müssen den Arabern beweisen, dass es für sie günstiger ist, mit uns ein gemäßigtes Programm zu verfolgen, als mit den Russen die Verwirklichung eines radikalen Programms anzustreben."

Am Ende dieser Entwicklung stand 1978 das Camp-David-Abkommen: die Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten und der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel. Sadat zahlte dafür mit seinem Leben. Am 6. Oktober 1981, am achten Jahrestages des Beginns des Jom-Kippur-Krieges, wurde er Opfer eines Attentates.

Rolf Steininger, O. Univ.-Prof, war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2010 Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. www.rolfsteininger.at

Buchtipp:
Rolf Steininger: Der Nahostkonflikt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2005, 6., aktualisierte Aufl. 2018, 128 Seiten, 9,30 Euro.