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Postmortale Einöde

Von Christian Pinter

Reflexionen

Die alten Griechen blickten dem Jenseits mit Grauen entgegen. Auf das Elysion als Insel der Seligen durften schließlich nur Protegés der Götter hoffen.


Bei dieser Darstellung (aus der Stoa des Attalos in Athen) handelt es sich wahrscheinlich um Persephone, die gemeinsam mit Hades über das Reich der Finsternis gebietet.
© Pinter

"Wie das Meer die Flüsse der ganzen Erde, so nimmt jener Ort alle Seelen auf, ist für kein Volk zu klein und fühlt nichts vom Zuwachs der Menge" - so beschreibt Ovid das antike Totenreich. Dieser Ort, von den Griechen Hades genannt, ist ständig in bleichen Winter gehüllt. Freude, Trost oder Abwechslung sucht man hier vergeblich.

Die Schatten der Verstorbenen ziehen "blutlos, ohne Fleisch und Bein" im Hades umher. Die einen bevölkern das Forum, die anderen betreiben ein Handwerk - wie im einstigen Leben. Der schlammige Klagestrom Acheron ist mit der Unterwelt verwoben, ebenso der Fluss Lethe, dessen Wasser alles vergessen macht. Hinzu kommt der uralte Styx. Er haucht Nebelschwaden aus. An seinem Ufer liegt die "stygische Stadt". Dort erheben sich, so Hesiod, die hallenden Häuser der Gottheit Hades.

Bei der Aufteilung der Welt zwischen den Brüdern Zeus, Poseidon und Hades fiel letzterem das gleichnamige Totenreich zu. Hades ist unerbittlich und hart, urteilt Homer, und den Menschen verhasst. Der Gott besitzt eine Tarnkappe. Sie macht ihn ebenso unsichtbar wie der Tod die Menschen.

Dreifache Nächte

Einst empörte sich die Liebesgöttin Aphrodite, weil ihre Macht nicht bis in die Unterwelt reichte. Daher befahl sie dem Eros (römisch: Amor), seinen schärfsten Pfeil auf den göttlichen Hades zu richten. Ins Herz getroffen, begehrte er die Lilien pflückende Persephone, eine Tochter des Zeus und der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Hades raubte sie. Seither gebietet er gemeinsam mit Persephone über das Reich der Finsternis. Ein Figurenpaar im Salzburger Mirabellgarten erinnert an die einstige Entführung; ebenso der Springbrunnen auf dem Altmarkt der polnischen Stadt Posen.

Der Unterweltgott Hades ist mit dem Plutos (röm.: Pluto) verschmolzen, dem Gott des Reichtums. Das ist kein Widerspruch: Denn die Reichtümer der Erde - die Bodenschätze - lagern ja ausgerechnet in seinem verborgenen Reich. Als man 1930 einen Himmelskörper im kalten, dunklen Außenbezirk des Sonnensystems entdeckte, taufte man ihn Pluto. Der Zwergplanet übertrug seinen Namen auf Walt Disneys animierten Hund Pluto und auf das gefährliche Element Plutonium. Herrschen die Reichen, lebt man in einer Plutokratie.

Am Ausgang des Hades wacht der schreckliche Hund Kerberos. Er bellt vielstimmig, besitzt er doch mindestens drei Köpfe. Kerberos verschlingt jeden, der zu fliehen versucht. Der Held Herakles (röm.: Hercules) zerrt ihn einmal aus der Unterwelt - eine sprichwörtliche "Herkulesarbeit". Die Szene ist im Michaelertrakt an der Nordseite der Wiener Hofburg verewigt. Ein gestrenger Türsteher, Portier oder Wächter wird heute mitunter noch Zerberus genannt.

Radierung von Gustave Doré: "Fahrt über den Styx", 1861.
© Wikimedia Commons

Hermes ist der Gott der Reisenden. Er begleitet auch die Seele (griech.: Psyche) auf ihrem letzten Weg. Er agiert somit als Seelenbegleiter, als Psychopompos. Das griechische Wort "Pompé" bedeutet entweder "Geleit" oder "festlicher Aufzug". Das Bestattungsunternehmen heißt im Französischen daher "Pompes funébres". Von diesem Begriff leitet sich der Pompfüneberer ab: Im Wienerischen werden so die uniformierten, schwarz gekleideten Sargträger genannt.

Bei den alten Griechen gelangen die Seelen der Verstorbenen zunächst ans Ufer des Styx oder des Acheron. Dort wartet der grimmige Fährmann Charon auf sie - mit flammendem Blick und starrend vor Schmutz.

Um ins Totenreich überzusetzen, muss man dem Ritus entsprechend begraben oder verbrannt worden sein. Außerdem ist dem greisen Charon ein Fährgeld zu zahlen. Daher wird dem Verstorbenen eine Münze unter die Zunge gelegt. Andernfalls müsste sein Schatten für immer am Flussufer auf und ab wandeln.

Neun Tage und Nächte fiele ein eherner Ambos vom Himmel zur Erde herab, meint Hesiod. Neun weitere bräuchte er, um im Tartaros aufzuschlagen: Dieser finsterste Ort der ganzen Unterwelt ist von dreifacher Nacht und einer eisernen Mauer umfangen. Hier werden jene bestraft, die den Zorn der Götter auf sich zogen, sich gegen diese stellten oder sich für allzu mächtig hielten.

In dieser "Stätte der Frevler" büßt zum Beispiel König Ixion. Er hat seinen Schwiegervater ins Feuer geworfen und dann versucht, die Zeus-Gattin Hera zu verführen. Als er sie schließlich vergewaltigen wollte, schob ihm Zeus ein täuschend ähnliches Wolkengebilde unter. So zeugte Ixion das ungestüme, triebhafte Geschlecht der Kentauren. Er selbst wurde an ein brennendes, sich ewig drehendes Rad gebunden.

Der König Tantalos soll den Göttern Nektar und Ambrosia gestohlen und ihnen dann das Fleisch seines Sohnes aufgetischt haben. Nun, im Tartaros steht ihm das Wasser bis zum Hals: Möchte der Durstige davon trinken, versiegt es jedoch in der schwarzen Erde. Will er seinen Hunger an den lockenden Äpfeln, Birnen, Feigen und Oliven über seinem Haupt stillen, reißt der Wind die Äste empor. Noch heute leiden wir Tantalusqualen, wenn etwas heiß Begehrtes nahe, aber doch unerreichbar ist.

Sisyphusarbeit

Prometheus brachte den anderen Göttern bloß Knochen und Fett des Opferrinds dar, behielt das Fleisch jedoch listig für die Menschen zurück. Zeus versagte den Sterblichen daraufhin das Feuer. Prometheus holte es wieder. Zur Strafe ist er nun in unlösbare Fesseln gelegt. Ein Adler frisst seine Leber, die nachts in gleichem Maße nachwächst. Ähnlich ergeht es Tityos, der einst eine Geliebte des Zeus verschleppen wollte. Seine Leber wird von zwei Geiern verspeist.

König Danaos sah sich gezwungen, seine fünfzig Töchter mit den fünfzig Söhnen seines Zwillingsbruders zu verheiraten. Von einer abgesehen, erdolchten sie die ungeliebten Gatten noch in der Hochzeitsnacht. Nun müssen die Witwen ein allzu löchriges Fass im Tartaros befüllen - eine niemals enden wollende Mühsal. Davon leitet sich unsere Redensart vom "Fass ohne Boden" ab: So manch ein Projekt scheint niemals fertig zu werden.

Sisyphos-Gemälde von Tizian.
© Wikimedia Commons

Zu ewiger Sühne verdammt ist auch König Sisyphos. Er wurde Zeuge, als Zeus die Flussnymphe Aigina raubte und verriet die Untat ihrem Vater. Dann legte er auch noch den ihm gesandten Tod in Banden. Als er später sogar die Persephone zu täuschen suchte, war das Maß voll: In den Tartaros verbannt, muss Sisyphos jetzt einen Stein mit Händen und Füßen den Hügel hinauf wälzen. Knapp vor dem Gipfel rollt dieser jedoch immer wieder zu Tal. Die Sisyphusarbeit ist zum Sinnbild einer anstrengenden, oft aussichtslosen Tätigkeit geworden.

Thanatos, der Tod, ist laut Hesiod ein Kind der finsteren Nacht - ebenso wie der freundliche Schlafgott Hypnos. Auf dieses Verwandtschaftsverhältnis spielt der Titel von Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder" an. Nach diesem Gott Hypnos taufte man später die Hypnose. Zu seinen vielen Söhnen zählt Morpheus, der Namenspate des Morphiums. Er sorgt für die Gestalten, die dem Träumenden begegnen. Für alles Leblose im Traum ist hingegen Phantasos, ein Bruder des Morpheus, zuständig. Sein Name entspringt ganz offensichtlich der "Fantasie".

In der Unterwelt toben sich die rasenden Erinyen (röm.: Furien) aus: Die Rachegöttinnen Alekto,
Tisiphone und Megaira hören die Klagen der Toten; sie verfolgen deren Mörder, aber auch Meineidige. Allein der Anblick des Trios kann die Schuldigen in den Wahnsinn treiben. So erscheint die blasse Tisiphone in einem von Mordblut durchtränkten Mantel. In ihrem wirren, grauen Haar zischen Schlangen, die Gift verspritzen. Von der Fassade des Naturhistorischen Museums in Wien blickt die geflügelte Tisiphone auf uns herab. Ihre Schwester Megaira lebt im Schimpfwort Megäre ("böses Weib", "Furie") weiter.

Tochter aus Elysium

Den Gegenpol zum schaurigen Tartaros bildet das Elysion. "Dort fließt leicht und mühelos hin das Leben", weiß Homer, "dort ist nicht viel Winter, und nie fällt Schnee oder Regen". Honig, Obst und Getreide gibt es reichlich. Der Schatten der Lorbeerhaine und ein linder Wind bieten Erfrischung. Die Verstorbenen vertreiben sich die Zeit mit Wettkämpfen, Spielen, Tänzen, Gedichten und Musik. Irdisches Leid ist vergessen. Alles fließt leicht und sorgenfrei dahin.

Dieses Gefilde ist leider nur ausgewählten Helden sowie Lieblingen und Kindern der Götter vorbehalten. So sollen sich dort etwa die schöne Zeustochter Helena und ihr Gatte, der König Menelaos, amüsieren. Regiert wird das Elysion vom Totenrichter Rhadamanthys oder vom Gott Kronos, der den Menschen einst das legendäre goldene Zeitalter schenkte: eine frühe, friedliche Epoche ohne Arbeit, Krankheit und Alter - gleichsam ein Paradies auf Erden.

Vielleicht ist das Elysion ein exquisiter Bereich innerhalb des Hades. Vielleicht liegt es im äußersten Westen, an der Erde Grenzen. Womöglich ist es ein verstecktes Eiland in Ringstrom Okeanos, der die Erde umspült. Hesiod spricht um 700 v. Chr. jedenfalls von den "Inseln der Seligen".

Die Pariser Prachtstraße Champs-Élysées wurde nach diesem Mythos getauft. Sie reichte ihren Namen an den Élysée-Palast weiter. Ob der französische Staatspräsident ahnt, dass er im "Elysium" arbeitet? Wir verwenden diesen Begriff noch heute, und zwar zur Beschreibung eines besonderen Glückszustands. Für Friedrich Schiller war die Freude eine Tochter aus Elysium.

Hesiod, Homer oder Ovid halten die griechischen Vorstellungen vom postmortalen Dasein in ihren Werken fest. Der spätantike, lateinische Dichter Vergil lässt die Seelen der Verstorbenen hingegen in neue Körper zurückwandern; sie sind nach tausendjährigem Aufenthalt im Totenreich geläutert und ohne Erinnerung. Vergil ist offenbar von der Reinkarnationslehre des Philosophen Pythagoras geprägt.

Wer im alten Griechenland nicht an die Wiederverkörperung glaubt oder einem Mysterienkult anhängt, der blickt also schlicht dem öden, dämmrigen und langweiligen Hades entgegen: Der Tartaros droht bloß den schlimmsten Frevlern; auf das Elysion dürfen nur die Protegés der Götter hoffen. Erst später öffnet sich auch das Gefilde der Seligen immer mehr den ganz normalen Zeitgenossen.

Christian Pinter, geboren 1959 in Wien, schreibt seit 1991 im "extra" hauptsächlich über Astronomie und Raumfahrt.