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Klimaforscher: "Jedes Zehntelgrad zählt"

Von Michael Ortner

Klimawandel

Klimafolgenforscher Georg Feulner über das Risiko von Kipp-Elementen, Wetterextreme und frustrierende Klimaskeptiker.


Als Alarmisten kann man Georg Feulner nicht bezeichnen, auch wenn dem renommierten deutschen Klimaexperten vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung dies mitunter vorgeworfen wird. Dabei drängt die Zeit tatsächlich. Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre gehe ungebremst nach oben, die Menschheit befinde sich auf einem "Business as usual"-Pfad, sagt Feulner. Als Erdsystemanalyst versucht er, das komplexe System aus Atmosphäre, Biosphäre, Ozean und Eis zu verstehen. Zentraler Kern seiner Forschung sind die sogenannten Kipp-Elemente.

"Wiener Zeitung": Was sind Kipp-Elemente und was wissen Sie darüber?

Georg Feulner: Kipp-Elemente sind unvorhergesehene Effekte im Klimasystem, deren Verhalten sich schlagartig ändern kann. Ein Beispiel für ein Kipp-Element wäre die Ozeanzirkulation im Atlantik. Wenn durch schmelzendes Eis zu viel Süßwasser in den Nordatlantik eingebracht wird, kann die Zirkulation abgeschwächt werden oder gar zum Erliegen kommen. Folgen wären etwa eine Abkühlung im Nordatlantikraum und ein Anstieg des Meeresspiegels an der US-Ostküste. Wir sehen, dass sich diese Umwälzbewegungen von Wasser im 20. Jahrhundert abgeschwächt haben. Bei welchem Gradniveau globaler Erwärmung das umkippen könnte, können wir noch nicht sehr gut quantifizieren.

Die Permafrostböden sind auch ein Kipp-Element. Welches Risiko geht von ihnen aus?

Diese Dauerfrostböden haben große Mengen Kohlenstoff gespeichert. Sie bergen das Risiko, dass durch das Auftauen relativ schnell zusätzlicher Kohlenstoff freigesetzt wird und dieser die Erwärmung beschleunigt. Das wirkt sich wiederum auf unser vorhandenes CO2-Budget aus, das dadurch kleiner wird.

Es heißt, wenn Kipp-Elemente einmal in Gang gesetzt sind, kann man sie nicht mehr stoppen. Bei welchen ist diese Gefahr am größten?

Es mehren sich die Anzeichen, dass beim westantarktischen Eisschild tatsächlich dieses Kippen schon angestoßen wurde und dass es nicht mehr aufzuhalten ist. Bei Grönland besteht die Befürchtung, dass in naher Zukunft dieses fortschreitende Abschmelzen ausgelöst wird. Das ist eine positive Rückkopplung, die dadurch zustande kommt, dass beim Schmelzen der Eisschild dünner wird und in niedrigere und wärmere Atmosphärenschichten kommt und dadurch der Schmelzvorgang verstärkt wird. Das passiert nicht bis 2100, sondern eher in Zeitskalen von Jahrtausenden. Aber wir sprechen von einem Meeresspiegelanstieg von sieben Metern, die das Schmelzen schon in naher Zukunft auslösen kann.

Land unter also, so wie jüngst in Venedig. Merken Sie, dass durch solche Ereignisse der Klimawandel im Bewusstsein der Menschen immer mehr ankommt?

Auf jeden Fall. Wir hatten beim Klimawandel ein doppeltes Problem. Einerseits hat man immer gedacht, es passiert in der fernen Zukunft oder in fernen Ländern. Aber die Extremereignisse passieren immer häufiger auch bei uns. Wir haben im Hitzesommer 2018 gemerkt, dass die Öffentlichkeit viel stärker realisiert, dass der Klimawandel jetzt schon da ist bei knapp einem Grad Erwärmung. Wir dürfen nicht den Fehler machen und sagen: Wenn wir zwei Grad nicht schaffen, machen wir gar keinen Klimaschutz. Jedes Zehntelgrad zählt. Man mag sich das gar nicht ausmalen, wie das bei 4 Grad Erwärmung im Jahr 2100 aussehen würde.

Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf die Gesundheit der Menschen?

Die Auswirkungen reichen von Schädigungen durch die Hitze selbst über die Ausbreitung von Krankheiten durch Mücken, die ihr Verbreitungsgebiet vergrößern können, bis hin zu Schädigungen durch Unterversorgung durch Nahrungsmittel. Umgekehrt hat jede Vermeidung von fossilen Energieträgern positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Tatsächlich gibt es immer noch sehr viele Todesfälle durch Luftschadstoffe.

Die Gesellschaft ist polarisiert: "Fridays for Future" auf der einen, Klimaskeptiker auf der anderen Seite. Was entgegnen Sie diesen Menschen?

Wir versuchen, mit den Menschen, die eine skeptische Einstellung haben, zu sprechen. Wissenschaft ist auch von Skepsis getrieben. Was wir leider aber sehr oft beobachten, ist, dass einige dieser Menschen Argumenten nicht mehr zugänglich sind. Sie sind in ihrem Weltbild so verfangen, dass wir leider keine Chance mehr haben, sie zu überzeugen. Das ist frustrierend.

Scheitert das Klimaziel, wenn man die USA nicht zurück ins Boot holt?

Es ist einerseits schade, da die USA nach wie vor ein großer CO2-Verursacher sind. Gleichzeitig kommt es zu einem gewissen Schulterschluss der anderen Länder. Zum anderen - auch wenn Donald Trump verkündet, die US-amerikanische Kohle wieder groß fördern zu wollen - scheitert es an ökonomischen Argumenten. Nichtsdestoweniger müssen auch die USA ihre Emissionen reduzieren.

Wird die Veränderung des Klimas internationale Migrationsbewegungen beeinflussen?

Es gibt Hinweise dazu, dass Umweltfaktoren bei Migrationsbewegungen in der Vergangenheit tatsächlich auch schon beigetragen haben. Das ist etwas schwierig, weil es meistens einer von vielen Faktoren ist. Das gibt es selbst in der Wissenschaft eine sehr kontroverse Diskussion. Aber wenn wir uns die Zukunftsprognosen anschauen, welche Gegenden es treffen wird mit Dürren, Nahrungsmittelknappheit und Meeresspiegelanstieg, dann kann man eigentlich davon ausgehen, dass es zusätzliche Migrationsbewegungen geben wird.