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Weiße Weihnachten, ja oder nein?

Von Eva Stanzl

Wissen
© adobestock/Westend61

Die Wetterprognosen werden immer präziser, dennoch wissen die Meteorologen derzeit noch nicht, ob es zu Weihnachten schneien wird. Die Gründe sind die extreme Komplexität des Wettersystems und fehlende Rechnerleistung.


Weihnacht im Schnee/ weiße Tannen rings um den See/Glockenklang vom Dorf in der Näh’/Weihnacht im Schnee." So besingt Freddy Quinn mit öligem Bariton das Fest der Liebe auf einer nostalgischen Schallplatte aus dem Jahr 1965, die paradoxerweise "Weihnachten auf hoher See" heißt. Weiße Weihnachten gab es damals eigentlich immer, doch heute gibt es sie nie. Liegt das am Klimawandel, oder zuckert die Erinnerung die Kindheit an? Oder hat man diese einfach am Land verbracht und lebt heute, berufstätig, in der Stadt, wo der Schnee nicht liegen bleibt?

Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien antwortet mit handfesten Zahlen: Im Zeitraum von 1951 bis 1980 gab es in den Landeshauptstädten noch doppelt so oft einen 24. Dezember mit einer geschlossenen Schneedecke wie von 1983 bis heute. In tiefen Lagen haben sich die Chancen auf weiße Weihnachten also de facto halbiert.

Prognosezeitraum zehn Tage

"Weiße Weihnachten kommen hierzulande im Tal nicht allzu oft vor und in den letzten drei Jahrzehnten wurden sie noch seltener", fasst der Klimatologe Alexander Orlik die statistische Auswertung zusammen. Also singt Freddy Quinn die Wahrheit. In den 1960er Jahren waren die Winter schneereicher und kälter als in den Siebzigern, Achtzigern und seither. In den vergangenen 30 Jahren gab es in Wien, Eisenstadt, St. Pölten und Linz nur jedes fünfte Jahr am 24. Dezember eine geschlossene Schneedecke. Schuld ist zum einen der Klimawandel, der uns laut ZAMG ein halbes Grad mehr beschert, und sind, zum anderen, statistische Schwankungen. Die niederschlagsreichen Winter der 1960er Jahre seien "etwas zu intensiv und nicht der Normalfall" gewesen. "In den 1980er Jahren pendelte sich das wieder ein. Der Dezember ist an sich der erste wirkliche Wintermonat. Die Böden, der Atlantik und das Mittelmeer sind noch warm. Die tiefsten Temperaturen treten nicht in den nächsten drei Wochen, sondern von Mitte Jänner bis Mitte Februar auf", sagt Orlik. Und heuer? "Der Prognosezeitraum beginnt seriöserweise zehn Tage im Voraus. Somit wissen wir frühestens in zehn Tagen, ob zum Weihnachtsfest Schnee liegt", erläutert Stefan Kiesenhofer vom Wettervorhersagedienst der ZAMG.

Das Wetter ist ein chaotisches System. Schon kleine Abweichungen in der Ausgangslage können, wie der sprichwörtliche Schmetterlingsflügelschlag, der am anderen Ende der Welt einen Hurrican auslöst, zu einem völlig anderen Ergebnis führen als berechnet.

Meteorologen können künftige Wetterzustände nicht linear aus den jetzigen vorausberechnen und in die Zukunft extrapolieren. Der Grund für die Unsicherheit ist in den Wettermodellen selbst zu finden. Gitterpunktgrößen sind die Einheit, mit der numerische Vorhersagemodelle arbeiten. Diese Computermodelle beschreiben die Erdatmosphäre, in der sich das Wetter zusammenbraut, in Rastern von fünf mal fünf, zehn mal zehn oder 20 mal 20 Kilometern. Wie ein virtuelles Netz umspannen sie die Erde. Für jeden Gitterpunkt lassen sich Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit, Niederschlagsraten oder Sonnenintensität in mehreren Höhenschichten um Stunden bis Tage in die Zukunft berechnen. Pro Anfangsbedingung liefert der Algorithmus ein Ergebnis in Zukunft. "Wenn sich die Anfangsbedingung jedoch geringfügig ändert, kommt hinten etwas anderes heraus. Aus einem Hochdruckgebiet wird auf einmal ein Monstrum von einem Tiefdruckgebiet mit Starkregen", erklärt Orlik.

Das Wetter ist eine nicht-lineare Gleichung, beeinflusst sich selbst und bleibt nur eine gewisse Zeit stabil. Regiert im Himmel über Österreich eine nordatlantische Strömung, kommt das System aus dem Tritt, wenn die Temperatur in Island nicht wie vorhergesagt fünf, sondern nur vier Grad erreicht.

Wetterstationen liefern die Messdaten. Die ersten wurden in Telegrafenbüros untergebracht. Es folgten Wetterwarten auf Leuchttürmen, Vulkaninseln, Ölplattformen und in Städten. Eine der mondänsten Adressen war jene des amerikanischen Wetterdienstes unter dem Dach des Rockefeller Plaza in New York City, eine der einsamsten steht auf der norwegischen 200-Einwohner-Insel Utsira. "Für eine fehlerfreie Prognose müssten wir allerdings jeden Kubikzentimeter der Atmosphäre beschreiben", sagt Orlik. Jeder Mensch müsste eine kleine Wetterstation vor jedes Fenster seines Zuhauses hängen, die ihre Daten an einen zentralen Rechner funkt. Dann wäre die Vorhersage präzise, aber die Rechner würden unter dem Datenvolumen kollabieren.
Jedes Molekül beeinflusst jedes Nachbarmolekül und die komplexe Summe ergibt den Gesamtzustand. Dass man ihn überhaupt vorhersagen kann, grenzt an ein Wunder, denn die Datenmengen sind sogar für Hochleistungsrechner enorm. So gesehen ist die Wettervorhersage eine Glanztat der Präzision.

Versuche sind seit dem Altertum überliefert. Lostage, als Bauernregeln bekannt, sind Bemühungen, die Jahreszeiten in wetterrelevante Abschnitte zu unterteilen. Der deutsche Physiker Otto von Guericke erkannte 1660 erstmals den Zusammenhang zwischen abfallendem Luftdruck und dem Aufzug von Unwettern. Ein europäisches Stationsnetz entstand ab 1800. Da die Messergebnisse aber von reitenden Boten in Geschwindigkeiten von maximal 120 Kilometern pro Tag überbracht wurden, konnte von "Prognose" keine Rede sein, denn der Wind legt bis zu 60 Stundenkilometer zurück. Erst nachdem Samuel Morse 1844 die erste Telegrafenlinie zwischen Washington und Baltimore in Betrieb genommen hatte, ließ sich von "Vorhersage" sprechen.

Der Telegraf brachte Information in Echtzeit von A nach B. Er ließ die Welt zusammenrücken und schuf im Falle des Wetters "Zeit und Raum. Sobald entsprechende Informationen über große Entfernungen hinweg ausgetauscht werden konnten, konnten die Stücke des Himmels wie Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden", schreibt Andrew Blum in seinem neuen Buch, "Die Wettermacher" (Penguin), in dem er die Geschichte der Wetterprognosen nachzeichnet.

Von nun an war das Wetter nicht mehr ein Lüftchen, das überrascht, sondern eine Karte. Es wurde nicht bloß erlebt, sondern gemessen. Bis die Systeme die Genauigkeit heutiger Sturm-Prognosen erreichen sollten, die tausende Leben retten, sollte es aber noch dauern. Zunächst musste man die Welt in Raster einteilen, nationale Messstationen errichten, internationale Abkommen mit einheitlichen Standards, Protokollen und Regeln aufstellen und Wettersatelliten in die Erdumlaufbahn bringen. Die Berechnungen wurden komplexer, die Computer leistungsstärker, die Vorhersagen präziser. Heute landen sie auf jedem Smartphone.

Wunderwerk Wettermaschine

"Die Wettermaschine ist ein Wunderwerk, das wir als etwas Banales behandeln. Wir benutzen sie jeden Tag, führen Smalltalk über ihre Erzeugnisse und beurteilen ihre Leistung", schreibt Blum. "Ihre Erfinder aber eröffneten den Menschen ein Fenster in die Zukunft."

Indem sie die Fähigkeit erlangte, das Wetter vorherzusagen, vollbrachte die Menschheit eine ihrer größten Leistungen in dem Bemühen, sich den Lebensbedingungen auf der Erde anzupassen. Wetterprognosen schützen uns vor den Launen oder, wenn man so will, der Wut der Natur. Dennoch durchschauen wir zunehmend weniger, wie sie funktionieren. "Wir haben ein Werkzeug gebaut, dem wir noch nicht zu vertrauen gelernt haben", betont Blum.

Weiße Weihnachten 2019, ja oder nein? Der November galt als überdurchschnittlich warm. "Derzeit liegt kaum Schnee und zum Wochenende wird es wärmer", sagt Stefan Kiesenhofer, "vermutlich also nein." Warum die Wetter-App auf dem Smartphone allerdings häufig etwas anderes in Aussicht stellt als nationale Wetterdienste, kann er genau begründen: "Bei uns vergleichen Menschen mehrere Modelle und setzen sie in Relation zu Erfahrungen. Auf das Smartphone kommen ungefilterte Computer-Berechnungen."