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Gewässer, die Verlierer des Pariser Klimaabkommens

Von Eva Stanzl

Wissen

Gewässerökologe Klement Tockner über effektiven Naturschutz vor dem Hintergrund klimabedingter Hochwasser und Dürren.


"Wiener Zeitung": Die Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung vereint in Deutschland elf Forschungsstandorte und drei Museen. Wie vergleicht sich Ihre Tätigkeit an deren Spitze mit Ihrer früheren Aufgabe als Präsident des Wissenschaftsfonds FWF, der in Österreich Grundlagenforschung fördert?Klement Tockner: In meiner Zeit als FWF-Chef waren nacheinander vier Minister für Wissenschaft zuständig. Unter diesen Bedingungen haben wir das Bestmögliche erreicht. Auch die Exzellenzinitiative wurde so umgesetzt, wie wir sie entwickelt haben, und wir haben in Österreich mehr Mittel für Forschung denn je. Aber natürlich wäre noch Luft nach oben. Heute bin ich wieder stärker in der Wissenschaft, zugleich ist die Aufgabe an der Spitze der Senckenberg-Gesellschaft komplexer. Die strategische Weiterentwicklung erfordert, die besten Experten zu gewinnen, und Standorte in sieben Bundesländern und Museen mit einer Million Besuchern sind eine Herausforderung. Wir sind dabei, einen Exzellenzcluster einzuwerben, und möchten das Naturmuseum in Frankfurt zu einem Haus von Weltformat ausbauen. Dafür wollen wir 330 Millionen Euro bekommen, der Zeithorizont sind zwölf Jahre, und es gibt ein klares Bekenntnis des Landes Hessen und des Bundes, den Ausbau voranzubringen.

Die Senckenberg-Gesellschaft widmet sich Bio- und Geowissenschaften, Biodiversität und Artenschutz. Laut einem Bericht des Instituts für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg ist die Überwachung der Artenvielfalt in Europa aber mangelhaft. Um die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie zu erreichen, benötigen die Länder eine bessere Koordination, mehr Ressourcen und "robustere, vergleichbare Daten". Ist das so? Wo bekommt man diese Daten her?

Der Befund stimmt, auch weil Daten zur Biodiversität zu wenig weit zurückreichen und oft nicht frei verfügbar sind. Die meisten Langzeitdatensätze sind 40 Jahre alt, es sind aber bereits vor 200 Jahren massive Veränderungen passiert. Mit 40,5 Millionen Objekten hat die Senckenberg-Gesellschaft die größte naturwissenschaftliche Sammlung Deutschlands, als Museum haben wir diese Art von Material. Diese Daten müssen gehoben werden, etwa indem Sammlungsmaterial genetisch untersucht und vollständig digitalisiert wird. Man kann die biologische Vielfalt auch mit Echtzeit-Monitoring erfassen, etwa durch DNA-Analysen biologischer Proben oder visuell-akustische Messungen. Damit ließe sich ein Frühwarnsystem aufbauen, das rechtzeitig zu erkennen gibt, wann ein System sich massiv zu ändern beginnt. Im Endeffekt managen wir Ökosysteme.

Wie ist der Zustand der Flüsse und Gewässer in Europa?

Europa setzt sich seit der Wasserrahmen-Richtlinie aus dem Jahr 2001 das Ziel, bis 2027 einen sehr guten ökologischen Zustand für alle Bäche, Flüsse, Seen und Grundwasser zu erreichen. Davon sind wir weit entfernt. In Deutschland haben nur 8 Prozent der Flüsse und Gewässer einen sehr oder zumindest guten Zustand. In Österreich ist es ein bisschen besser: Etwa ein Drittel der Gewässer sind in einer guten und sehr guten Situation, jedoch fast 70 Prozent in einer Lage, die einer Renaturierung bedarf. Im Wesentlichen ist das Problem Verbauungen und der massiven Einbringung von Pestiziden aus der Landwirtschaft geschuldet. Die Landwirtschaft ist sicher der größte Treiber von Veränderungen in der biologischen Vielfalt in Europa. Ohne sie als Partner wird es nicht gehen. Wir müssen dringend Synergien zwischen den unterschiedlichen Nutzern unserer Landschaft schaffen.

Der Tagliamento, der seine türkisgrünen Schlaufen durch ein bis zu einen Kilometer breites Flussbett durch das italienische Kanaltal zum Mittelmeer zieht, gilt als letzter Wildfluss der Alpenregion. Dank des Einsatzes von Anrainern und Wissenschaftern ist es gelungen, geplante Verbauungen zu verhindern. Sie selbst waren maßgeblich für den Erfolg. Wie haben Sie das gemacht?

Wir haben das Thema auf eine internationale Ebene gehoben, indem Forscher aus aller Welt dort gearbeitet haben. Der Tagliamento bekam Aufmerksamkeit und große Bedeutung als Referenzlebensraum. Zentral aber war das Engagement der Menschen vor Ort, die den Wert ihres eigenen Flusses erkannten. Italienische Kollegen hatten herausgefunden, dass Berechnungen für bestimmte Bauvorhaben nicht korrekt waren, und man hatte politischen Mut. Zudem ist die Renaturierung eines Flusses kostengünstiger als die Sanierung von Hochwasserschäden, und Hochwasser können auch Menschenleben fordern.

Derzeit wird für Flüsse auch in den Alpen diskutiert, im Zuge der Energiewende den Ausbau der Wasserkraft zu stärken. Was bedeutet der Aufstau auch kleiner Flussläufe für die Umgebung und Artenvielfalt?

Wasserkraft ist eine erneuerbare, aber weder klimaneutrale noch besonders umweltschonende Energiequelle. Das muss man betonen, damit man es nicht verwechselt. Die Gewässer sind möglicherweise die größten Verlierer des Pariser Klimaabkommens, gerade weil man jetzt global massiv in die Wasserkraft investiert. Die Frage ist aber nicht, ob, sondern wo und wie man die Anlagen baut und betreibt. Die erste Priorität muss die Optimierung bestehender Anlagen sein, die zweite, die Auswirkungen kleiner Kraftwerke möglichst gering zu halten.

Welche Folgen hat der Boom von Kleinkraftwerken für die Alpenwelt?

Die Auswirkungen steigen mit der Zahl der Kraftwerke. In einem Bachgebiet wirken sie kumulativ. Viele der kleinen Bäche und Gewässerabschnitte, die heute in gutem oder sehr gutem Zustand sind, verlieren wir scheibchenweise. Zu den Folgen zählen Veränderungen in der Durchgängigkeit der Bäche, des Geschieberegimes beim Transport von Schotter, der Morphologie durch Verbauung. Auch die Wasserführung verändert sich, wenn Sediment nicht mehr transportiert werden kann. Hinzu kommen klimabedingte Veränderungen im Niederschlagsregime, über die Wechselwirkungen weiß man wenig. Ab einer gewissen Kraftwerksgröße sind außerdem keine Umweltverträglichkeitsprüfungen vorgeschrieben. Es erfolgen Genehmigungen, ohne die Folgen zu untersuchen.

Der Neusiedler See hatte im heuer extrem trockenen März den Stand von August. Was würde mit seiner Artenvielfalt passieren, wenn man Wasser von außen zuleiten würde?

Der niedrige Wasserstand des Neusiedler Sees hat mit klimabedingten Veränderungen in der Saisonalität des Niederschlags zu tun. Höhere Verdunstungsraten im Sommer durch höhere Temperaturen wirken sich bei einem so empfindlichen See sofort aus. Wenn man Wasser aus der Donau in dieses Biotop, das sich an sich aus Regenwasser speist, einleiten würde, würde sich aber sein Chemismus, und damit seine Identität, verändern. Zudem hätte ein Umleiten von Donauwasser in den Neusiedler See nicht in erster Linie ökologische, sondern Erholungszwecke.

Fast jedes Jahr fordern Hochwasser zahlreiche Tote und Milliarden-Schäden. Wie sieht ein zukunftsweisender Hochwasserschutz aus?

Der Schutz des Menschen und der Naturschutz müssen in Einklang gebracht werden. So speichert etwa ein natürlicher Mischwald bis zu 200 Liter Wasser pro Quadratmeter, eine Monokultur aber nur 60 Liter. Außerdem hat der Mischwald eine höhere biologische Vielfalt und passt sich leichter an klimabedingte Veränderungen an. Die Renaturierung von Flussgebieten wiederum erhöht durch die Wiederanbindung ehemaliger Überflutungsgebiete das Rückhaltevermögen eines Flusses. Freilich muss man mancherorts technische Maßnahmen durchführen, aber künftig wird die Kombination mit naturverträglichen Methoden die Wahl sein. Aber man muss auch die Subventionspolitik ändern: Allein in Deutschland werden pro Jahr 57 Milliarden Euro für umweltschädigende Subventionen ausgegeben. Da braucht es ein fundamentales Umdenken.

Woran forschen Sie derzeit?

Ich arbeite gerade an Oasen weltweit, die als Modellsysteme für die Verbindung von biologischer und kultureller Vielfalt in Trockengebieten eine immense Bedeutung haben. Wir erstellen eine globale Datenbank zu ihnen, eine Landkarte der Oasen weltweit existiert nämlich nicht.

Warum eigentlich nicht?

Das hat uns auch erstaunt. Es gibt keinen flächendeckenden Überblick, die Satellitenaufnahmen müssen verifiziert und Informationen zu den einzelnen Oasen zusammengetragen werden.

Wie kamen Sie auf dieses anregende Forschungsthema?

In diesen Inseln in der Wüste haben sich viele Arten, Kulturen und Nutzpflanzen erhalten. Wir schauen uns an, wie sich entlang von Oasen die biologische und kulturelle Vielfalt verändert und wie eng diese Veränderungen gekoppelt sind. Gleichzeitig sind Oasen bedrohte Lebensräume, einerseits wieder durch intensive Landwirtschaft und andererseits durch Übernutzung des Grundwassers. Dennoch haben sich Hochkulturen in ihnen entlang des Nil, des Jordan oder in Mesopotamien entwickelt.

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