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Die Geschichtsbücher des Klimawandels

Von Eva Stanzl

Wissen

Paläoklimatologe Haug: Bohrkerne zeigen, dass CO2-Gehalt in den vergangenen 55 Jahren um 30 Prozent gestiegen ist.


Paläoklimatologen sind die Historiker unter den Klimawissenschaftern. Sie erforschen diese Entwicklungen über die Jahrmillionen und können belegen: Noch nie wurde es so schnell wärmer wie jetzt. Gerald Haug, Präsident der deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, über die Werkzeuge seines Fachgebiets und dessen Relevanz für die Gegenwart.

"Wiener Zeitung": Sie untersuchen die Entwicklung des Klimas im Laufe der vergangenen Jahrmillionen anhand von Sedimentkernen aus dem Grund von Ozeanen und Sie erforschen die Wechselwirkungen zwischen Klima und Kulturen. Wie würde unsere Kultur in einem Bohrkern aussehen?

Gerald Haug: Sie würden in Bohrkernen eine prominente Schicht mit einer hohen Akkumulation von organischen Komponenten und Kunststoffen finden.

Sind wir also eine dicke Schicht von künstlichen und organischen Stoffen, Beton und Metallen?

Die Schicht muss nicht besonders dick sein, aber man wird sie mit bloßem Auge erkennen. Veränderungen des Sauerstoffgehaltes in den Meeren, veränderte Sedimentationsbedingungen durch das Fehlen von Sauerstoff und auch Kunststoffe werden sichtbar sein. Auch giftige chemische Zusammensetzungen werden in einer sedimentären Schicht wunderbar zu erkennen und messbar sein. Die Alpenseen etwa enthalten Bleichmittel der Textilindustrie seit Beginn des letzten Jahrhunderts.

Was sind die Werkzeuge der Paläo-klimatologie?

Bohrkerne, die etwa Ton-Minerale, Sylt oder Sand enthalten können, zeigen Sedimentologen etwas über die generelle Genese. Isotopen-Geochemiker analysieren Element-Zusammensetzungen, Isotopenverhältnisse oder Biomarker, um Umwelt- und Klimaveränderungen zu rekonstruieren. Mit anderen Hightech-Methoden wiederum können Sie die Wasseroberflächen-Temperatur der letzten sechs Millionen Jahre im Nordpazifik auf plus/minus 0,1 Grad Celsius nachvollziehen.

Was können wir aus der Paläoklimatologie für heute lernen?

Ohne Paläoklimatologie wüssten wir nicht, wie groß der Einfluss des Menschen auf das Klima ist. Aus der Analyse von Eisbohrkernen wissen wir heute genau, wie hoch die atmosphärische CO2-Konstellation über die vergangenen 800.000 Jahre war. Im Süd-Ozean wiederum können wir vermessen, welche Faktoren die CO2-Variabilität zwischen Eiszeit und Warmzeit steuern. Wenn wir den menschengemachten Effekt der vergangenen 100 und insbesondere der vergangenen 60 Jahre auf dieses Wissen aufsetzen, sehen wir, dass alle Kurven exponentiell nach oben gehen, ob Temperatur, CO2-Gehalt in der Atmosphäre oder Umweltablagerungen. CO2 steuert über den Kohlenstoffkreislauf das Klimageschehen und hat heute eine atmosphärische Konzentration von 420 parts per million (ppm). In den 800.000 Jahren davor betrug die CO2-Konzentration in Warmzeiten 280 bis 300 ppm und in Eiszeiten rund 200 ppm. Wir haben allein in meinem Leben - ich bin 55 Jahre alt - mehr als 100 ppm angesammelt.

Allein in Ihrer Lebenszeit ist der atmosphärische CO2-Gehalt somit um rund 30 Prozent gestiegen. Bestimmte klimatische Ereignisse lassen sich aber nicht mit der Höhe des CO2-Gehalts erklären. Etwa herrschten in der mittelalterlichen Warmzeit auf der Nordhemisphäre überdurchschnittlich hohe Temperaturen, insbesondere im Vergleich zur anschließenden kleinen Eiszeit mit ihrer starken Abkühlung und ihren Extremwetterereignissen. Gibt es hierfür eine schlüssige Erklärung?

Das Klima ist ein sehr komplexes System. Die jüngsten Veränderungen sind an die Treibhausgase gekoppelt, doch vorindustriell spielten Treibhausgase keine Rolle. Etwa geht man davon aus, dass im vorindustriellen Holozän Sonnenflecken eine nur kleine Aktivität hatten und es zu einer Zirkulationsänderung im Nordatlantik kam, die sich in Sedimentkernen abbildet. Sonnenflecken-Minimum plus ein Nordatlantik, der weniger Wärme brachte, erzeugte die miserablen Wetterbedingungen der kleinen Eiszeit, auf deren Höhepunkt die Franzosen keinen Wein anbauen konnten. In weiterer Folge geschah die Französische Revolution. Man kann herrlich darüber spekulieren, welche Rolle die Klimageschichte in der Menschheitsgeschichte hat.

Wie hängen Klimaveränderungen mit Kriegen und Krisen zusammen?

Historisches Beispiel: Die Maya haben erfolgreich, aber übermäßig gewirtschaftet und auf der Halbinsel Yucatán ihren Regenwald abgeholzt. Sie waren zunächst ein paar Millionen Menschen. Doch dann wurde es trocken und die Kaskade Trockenheit, Politiker, die keinen Regen lieferten, Streit und Hungersnot brachten das Ende der klassischen Maya im 9. Jahrhundert. Weiters haben wir im Experiment hochauflösende Klima-Rekonstruktionen mit 4.000 Jahren chinesischer Geschichte verglichen. Bei schwachem Monsun endeten häufig Dynastien. Je komplexer eine Zivilisation ist, desto stärker reagiert sie auf Umwelteinflüsse. Allerdings ist das keineswegs monokausal, sondern es passiert in komplexen Strukturen zwischen Umwelt, Gesellschaft und Politik.

Der Welklimarat (IPCC) wurde lange für Schwarzmalerei kritisiert, doch jetzt scheint der Klimawandel weitaus schneller voranzugehen als angenommen. Welche Stellschrauben in den Prognoseformeln müssten angepasst werden, um die neue Realität abzubilden?

Die Modelle sind schon in Ordnung! Sie zeigen das große Bild und werden zunehmend besser. Allerdings ist der IPCC ein eher konservatives Gremium. Die Veränderungsraten und Amplituden wurden eher unter- als überschätzt, man muss die Entwicklungen hochkorrigieren und die Zeiten verkürzen. Die Stellschraube wäre jetzt, endlich ernsthaft etwas zu tun und vorhandene Innovationen zu nutzen. Erneuerbare Energien aus Photovoltaik und Wind, die man mittlerweile speichern kann: Diese Techniken haben wir seit Jahren - wir müssen sie anwenden und endlich einen wirtschaftlichen Weg finden, um vorhandene Innovationen weltweit einzusetzen. Stattdessen gehen wir durch die größte Kohle-Renaissance seit Beginn der Industrialisierung und decken nach wie vor einen Großteil unseres Energiebedarfs mit fossilen Kraftstoffen. Das ist eine Tragödie.

Die Leopoldina hat einen Bericht zur Energiewende verfasst. Welche Schlüsse ziehen die Autoren?

Wir haben in dem Diskussionspapier "Leitideen für die Transformation des Energiesystems" betont, dass wir ein umfassendes, einheitliches, transparentes europäisches Emissionshandelssystem brauchen. Und wir müssen negative Emissionstechnologien auf den Weg bringen. Deshalb haben wir uns für ein systemisches Kohlenstoffkreislaufmanagement ausgesprochen. Mit Blick auf Europa brauchen wir einen Netzausbau für stoffliche Energieträger, was uns zur Wasserstoffwirtschaft bringt. Und wir brauchen eine große Netz-Initiative und mehr Gaskraftwerke, die mit Wasserstoff betrieben werden können. Es nützt nichts, aus Atomkraft und Kohle auszusteigen, ohne den Einstieg in neue Energien aufzubauen, sonst wird es irgendwann kritisch für Europa als Industriestandort. Wenn allerdings die Bewilligung eines Windparks bis zu zehn Jahre dauert, ist das ein Problem. Wir müssen mutige Entscheidungen treffen, anstatt uns in komplexen Verwaltungsstrukturen zwischen Bund und Ländern zu verlieren.

Vor welchen Herausforderungen steht der Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in diesen Zeiten multipler Krisen?

Wir müssen noch verständlicher werden. Viele unserer Themen sind über-komplex und wir müssen sie so kommunizieren und herunterbrechen, dass jede Frau, jeder Mann, die sich interessieren, sie verstehen können. Wenn ich als Ozeanograf schon Schwierigkeiten habe, Experten für die Atmosphäre zu verstehen, haben wir eine große Aufgabe. Der Wissenschaftsjournalismus muss ausgebaut werden.

Es sieht nicht danach aus. Qualitätsmedien befinden sich einmal mehr in einem Umbruch, der in Redaktionen viele Jobs kosten wird.

Ihnen und ihren Kollegen fällt aber eine wichtige Rolle zu, denn wir Forscher sind manchmal betriebsblind. Das Herunterbrechen komplexer Vorgänge in eine Sprache, die in der Breite verständlich ist, ist essenziell. In hochkomplexen Welten gibt es laufend Erkenntnisgewinn, das Wissen ändert sich praktisch wöchentlich. Es ist eine Dauer-Herausforderung, damit verbundene Unsicherheiten, von der Diagnose über die Therapie bis zur politischen Umsetzung, klar zu kommunizieren.

Ist unsere Welt zu komplex geworden, um sie zu verstehen?

Nein. Zwar kann man nicht erwarten, dass Wissenschaft so stark interessiert wie etwa der Sport, aber wir sollten bemüht sein, für Interessierte die großen Züge der Entwicklungen verständlich zu machen.

Haben Sie an der Spitze der Leopoldina noch Zeit, zu forschen?

Ja, sicher, ich habe in Mainz ein Max-Planck-Institut mit 50 Mitarbeitern, bin regelmäßig dort, unterrichte an der ETH Zürich und bin sehr froh, diese Rolle beibehalten zu können.

Zur Person~