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"Unser Aussterben ist unser Feind"

Von Eva Stanzl

Wissen
"Wir müssen heute das Leben in 50 Jahren retten, obwohl dann viele von uns nicht mehr am Leben sein werden": Simon Levin zu Besuch am Complexity Science Hub in Wien.
© Stanislav Jenis

Damit der Klimawandel uns nicht vernichtet, müssen wir Konflikte beseitigen und zusammenarbeiten, sagt Ökologe Simon Levin.


Ob Emissionen und Weltklima, Reiseverkehr und Seuchenübertragung oder das Ausfallsrisiko einer Bank: Je vernetzter die Welt ist, desto vielfältiger sind die Zusammenhänge. Komplexitätsforscher versuchen, verwickelte Angelegenheiten einfach zu sehen. Simon Levin, Professor für Ökologie und Mathematische Biologie der Universität Princeton, versteht sich in dieser Disziplin. Am Rande eines Besuchs des Complexity Science Hub in Wien sprach er mit der "Wiener Zeitung" über die Probleme unserer Zeit - und bot die eine oder die andere Lösung an.

"Wiener Zeitung": Österreichs Ex-Kanzler Fred Sinowatz sagte 1983 in seiner Regierungserklärung: "Es ist alles sehr kompliziert." Er wurde damals belächelt. Könnte die Aussage heute als Vorahnung verstanden werden?

Simon Levin: Die Probleme heute sind insofern kompliziert, als dass die Gesellschaft voller Interessenskonflikte ist. In simplen Systemen bewegt sich jeder in die gleiche Richtung. Das ist heute aber keineswegs der Fall. Wer einen Teil verändert, beeinflusst viele andere Elemente einer Sache. Wir alle wollen ein besseres Leben, aber was wir gewinnen, wirkt sich auf die Mitmenschen, die Umwelt oder das Klima aus. Alles, was wir tun, könnte Probleme für andere Mitglieder der Gesellschaft schaffen.

Wie kommt man zum Punkt?

Wir Komplexitätsforscher versuchen es mit mathematischen System- und Netzwerkanalysen. Bei der Suche nach neuen Regelungen wiegen wir Gewinn gegen Verlust auf und suchen nach Lösungen, die für möglichst viele Menschen möglichst gerecht sind. Das ist ein bisschen, als würde ich mit mir selbst verhandeln, ob ich Schokolade essen soll: Ein Teil würde sie am liebsten täglich verspeisen, der andere kennt die Konsequenzen davon. Also muss ich mir überlegen, wir dringend, wie oft und wie viel ich davon will.

Welche Antworten gibt die Natur auf große Fragestellungen?

Variation treibt die Evolution, Diversität schafft neue Chancen und jede Herrschaft ist fragil. Wer die Variation unterdrückt, verliert Innovationskraft. Aus diesem Grund müssen wir Ressourcen nutzen, dürfen sie aber nicht ausbeuten, und müssen stets flexibel reagieren. Das Immunsystem zeigt uns, wie das geht. Die Selektion wusste, dass wir von Keimen bedroht sein würden. Nicht vorhersehbar ist jedoch, welche Keime es sein werden. Das Immunsystem bekämpft daher alle Viren zunächst mit einer generellen Abwehr und erzeugt erst später spezialisierte Antikörper. Ähnlich ist es bei finanziellen Risiken, Terrorismus oder Cyberterror: Sicher ist nur, dass sie eintreffen, aber wir wissen nicht gegen wen, wann, wo oder wie. Daher benötigen wir zuerst eine generelle Abwehr - etwa im Finanzsystem indem wir den Handel aussetzen, wenn die Märkte in den Keller rasseln. Die Pause gibt Zeit zum Entwurf von Ausgleichsmaßnahmen. Auch Tiere schaffen ständig einen Ausgleich: Sie verbreiten Samen, legen Reserven an, suchen neue Nahrungsquellen und sind ständig aktiv, um ihren Platz auf der Welt zu sichern und die Zukunft zu antizipieren.

Was können wir in dieser Zeit des atemberaubenden, vor allem technischen Wandels noch antizipieren?

Die Selektion formt unsere Strategien ständig neu, so wie bei Tieren. Wenn aber zu viele ähnliche Ziele verfolgen und um den besten Platz wetteifern, gerät das System außer Kontrolle. Daher müssen wir abwägen zwischen Geschwindigkeit und Präzision. Je schneller und präziser wir entscheiden, desto besser ist es. Allerdings ist Geschwindigkeit fehleranfällig und Präzision dauert. Daher ist es auch hier eine Frage der Balance. Insgesamt sollten wir uns entspannen.

Maschinen sind schnell und präzise zugleich. Können wir mit Künstlicher Intelligenz wetteifern?

Die Automatisierung schafft größere Probleme, als wir annehmen. Schon alleine die Jobs, die ihr zum Opfer fallen, sind ein kollektives existenzielles Problem, das den Einflussbereich nationaler Regierungen sprengen kann. Deswegen muss es internationale Abkommen geben, die diese Vorgehensweisen regeln. Sie stützen sich auf Gemeinde-, Stadt- und Staatsregierungen, die für ihre Wähler verhandeln. Natürlich werden sich bei neun Milliarden Erdbewohnern nie alle einig sein - den besten Lösungen stimmen alle zu, bei den zweitbesten nur die Mehrheit. Aber internationale Abkommen sind bei globalen Anliegen die einzige Form der Kooperation - ohne sie gäbe es keinen Artenschutz und keine Vorsicht mit Atomwaffen.

Warum lassen sich Einigungen bei Klima-Gipfeln so schwer erreichen?

Nicht alle haben das Gefühl, dass sie von Klima-Abkommen genug zurückbekommen, weil so viele Interessen daran hängen. Aus der Evolutionsbiologie wissen wir: Nur zwei Menschen können sich auf gegenseitigen Altruismus einigen: Wenn du mir Gutes tust, tue auch ich dir Gutes. Bei 100 Leuten werden die Interaktionen komplexer: Man benötigt Normen von Höflichkeit, Belohnung und Bestrafung. Dann heißt es: Wenn du nicht zu meinem Begräbnis kommst, kommen meine Verwandten auch nicht zu deinem. Die Stadt Wien ist dagegen so groß, dass man Normen mit Gesetzen installieren muss. Und internationale Abkommen brauchen ganz klare Linien: Die Abrüstung von Atomwaffen funktioniert nur, weil wir die Konsequenzen nicht tragen wollen. Das Montreal-Protokoll zur Senkung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (die das Ozonloch verursachten, Anm.) war effektiv, weil die Hersteller Alternativen parat hatten und die Gesellschaft kaum etwas aufgeben musste. Bei Klimaabkommen müssen jedoch viele Bereiche über einen langen Zeitraum angegangen werden. Wir müssen heute das Leben in 50 Jahren retten, obwohl dann viele von uns nicht mehr am Leben sein werden.

2016 erhielten Sie vom ehemaligen US-Präsident Barack Obama die National Medal of Science für Ihre Arbeiten zum Klimawandel. Wie geht es Ihnen heute unter Präsident Donald Trump?

Ich bin bekümmert über den Richtungswechsel in der Klimapolitik, den ich für kurzsichtig halte. Ich verstehe nicht, warum die USA mehr Widerstand als andere Länder leisten. Leider sind Regierungen Spiegelbilder der Bevölkerung. Wir Forscher haben wohl zu wenig Überzeugungsarbeit geleistet.

Welchen Rat würden Sie der Menschheit geben?

"Und wie ihr wollt, das euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen" (Lukas 6:31, Anm.). Was für große Religionen gilt, gilt auch für die Menschheit: Wir sitzen alle im gleichen Boot und müssen zusammenwirken. Wir sollten erkennen, dass kurzfristige Gewinne langfristige Probleme auslösen können und dass wir uns um die Gesellschaft und die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder sorgen sollten. Bisher haben Individuen Gruppen gebildet, um einen Vorteil gegenüber anderen Gruppen zu haben. Jetzt aber gibt es keine anderen Gruppen - unser aller gemeinsamer Feind ist der globale Verfall. Wenn nicht alle kooperieren, haben wir alle keine Hoffnung - das ist mein trauriger Rat.

Kann das Tier Mensch Ihren Rat befolgen?

Der Preis ist unser eigenes Aussterben. Es ist unser einziger gemeinsamer Feind. Wir müssen kooperieren, um nachhaltige Lösungen zu finden. Ansonsten werden zunächst die sozialen Leistungen wegbrechen und die Krankheits- und Sterberaten steigen. In weiterer Folge könnten wir die Welt so stark verschmutzen, dass niemand überlebt. Nur den Bakterien wird es gut gehen.

Glauben Sie an Gott?

Ich komme aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, habe aber keinen traditionellen Gottesglauben. Ich glaube nicht an einen allwissenden einzigen Gott, der uns geschaffen hat. Ich glaube aber, dass es Kräfte gibt, die wir nicht verstehen, dass die Menschheit eine Bestimmung hat und dass wir zusammenarbeiten müssen. Warum wäre es mir sonst wichtig, dass sie nach meinem Tod weiter existiert? Es gibt keine endgültige Theorie, die erklärt, warum es uns gibt - der Urknall hilft nicht wirklich. Und wenn alles in einer Ursuppe anfing, woher kommt dann die Ursuppe?

Simon Asher Levin, geboren 1941 in Baltimore, ist ein amerikanischer
Ökologe und mathematischer Biologe. Er ist Professor für Ökologie und
Evolution an der Universität Princeton in New Jersey. Levin versucht,
Ökosysteme mit mathematischen Modellen zu verstehen.