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Der Mensch beeinflusst die Evolution

Von Alexandra Grass

Wissen
© Haramis Kalfar - stock.adobe.com

Medizinische und technische Fortschritte führen zu rascheren Veränderungen


Wien. Der aufrechte Gang des Menschen hat es mit sich gebracht, dass die menschliche Geburt zu einem Balanceakt geworden ist. Ein möglichst breites weibliches Becken gewährleistet zwar ein sicheres Gebären, doch ein schmales trägt in aufrechter Haltung das Gewicht der inneren Organe besser. Ein großes Baby wiederum hat grundsätzlich größere Überlebenschancen. Doch steigt das Risiko, dass es nicht durch den Geburtskanal der Mutter passt. Fortschritte in der Medizin und Technik können hier zu Veränderungen führen und haben es auch schon, betont der Evolutionsbiologe Philipp Mitteröcker von der Universität Wien im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Und die Evolution schreitet voran - mitunter auch schneller als in der Vergangenheit.

Große Kinder, schmales Becken

Durch die medizinische Behandlung werden evolutionäre Gleichgewichte beendet und damit neue Veränderungen ausgelöst, schreibt der Forscher im Fachblatt "Nature Ecology & Evolution". Seitdem die Rate an Kaiserschnitten gestiegen ist - auch weil diese heute wesentlich gefahrloser durchgeführt werden können als noch vor einigen Jahrzehnten -, können Frauen mit schmalen Becken problemlos große Kinder zur Welt bringen. Andererseits sind die Überlebenschancen für Frühchen wesentlich gestiegen und es gibt immer mehr von ihnen, betont Mitteröcker. Und weil die Kinder immer häufiger früher aus dem Mutterleib geholt werden, sei wiederum eine Abnahme des Geburtsgewichts zu beobachten.

Damit wird klar, dass es sich in Sachen Evolution um ein unglaublich komplexes Phänomen handelt, das auch von Menschenhand beeinflussbar ist. Denn Veränderung sei nicht nur ein biologischer Prozess. Die Hauptfaktoren seien kultureller und gesellschaftlicher Natur. Dies beinhaltet auch technologische und medizinische Fortschritte.

Sichtbar werde dieses äußerst komplexe Zusammenspiel auch bei der sogenannten Sichelzellenkrankheit, eine der häufigsten genetischen Erkrankungen weltweit mit Kindersterblichkeiten in Afrika von bis zu 90 Prozent, so Mitteröcker. Träger des Sichelzellgens haben, wie man heute weiß, eine natürliche Resistenz gegenüber Malaria. Der Selektion gegen Sichelzellanämie steht also die Selektion für Malariaresistenz entgegen. Fortschritte in der Behandlung der Anämie führen Berechnungen zufolge zu einem Anstieg der Erkrankung schon in den nächsten Jahrzehnten, erklärt Mitteröcker.

Evolutionäre Veränderungen in modernen Gesellschaften können also erstaunlich rasch ablaufen. Sie können körperliche Eigenschaften innerhalb von Jahrzehnten verändern und damit auch gesundheitlich relevant sein, erklärt der Biologe.

Dynamiken dahinter verstehen

Ihm gehe es darum, dass in der Forschung die Dynamiken dahinter im Fokus stehen, um sie zu verstehen und, mitunter aber auch Veränderungen schon vorhersagen und Handlungen setzen zu können. Würde man etwa in den entsprechenden afrikanischen Ländern massiv in Malariaprophylaxe investieren, würde dieser Selektionsdruck wegfallen. Damit würde sich die Sichelzellanämie nicht weiter verbreiten, erklärt Mitteröcker. Und um die weitere Zunahme des Schädel-Becken-Missverhältnisses bei der Geburt zu verhindern, "sollte man in die Neonatologie und in die Beckenbodenvorsorge investieren".

Doch daran könnten Biologen und Mediziner nicht alleine forschen, betont der Experte. Immerhin gehe es hier um die Biologie in Interaktion mit gesellschaftlichen Prozessen. Er will deshalb Sozialwissenschafter, Anthropologen und auch Bioethiker mit an Bord holen, Gesundheits- und Forschungspolitik langfristig planen zu können.

Ähnlich wie bereits existierende Institutionen zur Erforschung aktueller und zukünftiger Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Umwelt, schlägt Mitteröcker einen Thinktank vor, der sich mit den evolutionären Dynamiken der menschlichen Biologie und Gesundheit in unserer rapide verändernden Umwelt und Gesellschaft beschäftigt. Denn "neue evolutionäre Veränderungen sind im Entstehen". Die Gesundheits- und Forschungspolitik sei damit vor eine Herausforderung gestellt.