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Lustvolles Laster

Von Edwin Baumgartner

Wissen
"Venus und Mars" Sandro Botticelli, National Gallery, London.
© VCG Wilson / Getty

Lust und Laster – wie leicht das über die Lippen fließt! Die Lust ist ein Laster. Das Laster ist eine Lust. Willkommen im Laster!


Das Laster macht Lust auf das Leben in all seiner Fülle. Wie langweilig ist dagegen die Tugend. Sie freilich wird nach dem Anziehen des Holzpyjamas, also nach dem Abgeben des Löffels, dem Ausstrecken der Patschen, dem Betrachten der Erdäpfel von unten, jeder nach seiner eigenen Fasson halt ("O Herr, gib jedem seinen eignen Tod" dichtete Rainer Maria Rilke) – die Tugend also wird weidlich belohnt. Nachher. Aber Spaß, also richtig Spaß, macht auch die Belohnung nicht. Es sei denn, man empfindet das Harfespielen auf einer Wolke als lustvoll. Oh je – wäre es lustvoll, wäre es lasterhaft. Ein wahrer Teufelskreis ist es mit dem Laster.

Ja, da ist er schon, der Böse, der Geschwänzte, der Feurige mit den Hörnern. Der Herr der Fliegen. Und der Choreograph aller Laster. Wie listig hat er seine Fallstricke gelegt!

Mit der Sünde allein war er nicht zufrieden. Sünde – das ist die Übertretung eines göttlichen Gebots. Zum Beispiel soll man nicht eine verheiratete Frau begehren. Wenn man das doch tut, ist es eine Sünde. Alles klar? Scheinbar. Wie verheiratet muss die Frau sein, dass sie zu begehren Sünde ist? Ist es eine Sünde, eine in fester Beziehung, aber ohne Ehegelöbnis lebende Frau zu begehren? Wobei die Sünde schon in der festen Beziehung ohne Ehegelöbnis anfängt.

Lassen wir das lieber. Sünde – das ist ein Fall für die Moraljuristen, für die Gewissensrichter. Sünde ist abstrakt. Laster ist etwas Anderes. Laster ist konkret, von den Orgien der Römer über die Opiumkaschemmen der Häfen bis hin zu den heutigen Koksereien. Und Sex war sowieso immer dabei. Lust und Laster: Es hat wahrhaft seine Gründe, dass man das eine für das andere nimmt."Müßiggang ist aller Laster Anfang" heißt es im Sprichwort. Bertolt Brecht und Kurt Weill machten daraus einen Song in den "Sieben Todsünden". Apropos Todsünden: Moraltheologisch genau genommen sind das Laster, die zu den nicht vergebbaren Sünden führen. Laster sind nämlich der Definition nach Verhaltensweisen, die moralisch verwerflich sind. Als sieben Hauptlaster gelten Stolz, Neid, Völlerei, Geiz, Faulheit, Zorn und Wollust. Dazu kommen als nicht ganz so schlimme Laster (Unsinn: Jedes Laster ist schlimm, bedeutet der moralisch empört hochgereckte Zeigefinger) Unglaube, Verzweiflung, Torheit, Feigheit, Ungerechtigkeit, Unbeständigkeit, Trotz, Neugier, Zwietracht.

Da haben wir’s: Das Christentum sitzt uns mit seinem Moralverständnis im Nacken. Nur keinen Spaß haben! Lust am Leben ist böse, denn wer Lust aufs Leben hat, hat keine Lust aufs Jenseits, und wenn man keine Lust aufs Jenseits hat, hat man auch keine Lust auf Moralpredigten, wie man dorthin gelangen kann. Ein Zeitgenosse Julius Caesars hätte sich halb totgelacht über diese Laster. Gewiss: Auch den Römern galten Bescheidenheit und Mäßigung als Tugenden. Aber es ist ein Unterschied, ob man jemanden lobt wegen seiner Tugendhaftigkeit, oder ob man jemanden verdammt wegen seiner Lasterhaftigkeit. Und Völlerei beispielsweise wäre in der Nation, die sich an Leckereien delektierte wie frittierten Pfauenzungen oder gefüllten Giraffenhälsen, gewürzt mit Soße aus fermentierten Fischen, kaum als Laster wahrgenommen worden. Wenn sich einer auf Moretum mit Fladenbrot beschränkt – schön, gut und löblich, aber letzten Endes seine Sache.

Von den Hauptlastern wäre in der römischen Antike gerade einmal der Geiz als unschöner Zug wahrgenommen worden. Aber dafür wäre der Geizkragen in einer Posse verspottet worden, dafür hätten Plautus, Menander und Konsorten schon gesorgt, und er wäre nicht dem ewigen Höllenfeuer überantwortet worden.

Und wenn man schon nicht den Römern glaubt, dass es wirklich vergnüglich ist, was uns als Laster dünkt, dann vielleicht Johann Wolfgang von Goethe, der in seinem Gedicht "Der wahre Genuss" meinte: "Du wärest ein Vorwurf zum Erbarmen, / Ein Tor, wärst du nicht lasterhaft." In dem Gedicht geht es übrigens um Sex. War ja kein Kostverächter, der alte Olympier, der hat schon seine Griechen und Römer gekannt – und verstanden obendrein.

Auch der im Denken ganz anders gelagerte Wilhelm Busch mahnt, sich doch dem Laster hinzugeben, denn: "Doch schmerzlich denkt manch alter Knaster, / Der von vergangnen Zeiten träumt, / An die Gelegenheit zum Laster, / Die er versäumt."

Ja, Laster bedeutet lustvolles Leben. Wie trist und traurig wäre ein Leben ganz ohne Laster. In grau verliefe es. Denn als lasterhaft gilt bald alles, was Freude macht: Gut essen, ist Völlerei. Den verregneten Sonntag auf der Couch vor dem Fernseher verdösen, ist Faulheit. Botticellis "Venus" betrachten, ist Wollust. Man schaut sich einfach keine nackte Frau an. Sex bleibt Sex. Da kann man Facebook ebenso befragen wie die an der nächsten Ecke ihren Wachtturm verteilenden Zeugen Jehovas. Unzucht ist überall. Und überall lauert damit das Laster.

Wie recht doch Molière hat, wenn er meint: "Ein angenehmes Laster ist einer langweiligen Tugend bei weitem vorzuziehen." Das exemplifiziert übrigens ein anderer Dichter, nämlich Dante. In seiner "Divina Commedia" sind Hölle und Fegefeuer wahre Lesevergnügen. Kein Wunder, da geht es um die Lasterhaften – und das Laster ist bunt wie das Leben selbst. Wer an Einschlafstörungen leidet, kann sich indessen das "Paradies" vornehmen. Tugend ist langweilig. Das hat Dante zwar nicht gemeint, aber gerade so kommt’s heraus.

Überhaupt: Was wäre Kunst, Musik, Literatur ohne das Laster und die Lasterhaften? Man stelle sich Flauberts "Madame Bovary", Tolstois "Anna Karenina" und Wagners "Tristan" ohne Wollust vor – oder Schieles Malerei; nicht zu reden von Shakespeares "Sommernachtstraum". Kommen Stolz und Neid und Zorn zur Wollust, sind wir bei "Othello" – und der halben Weltliteratur. Zumindest der spannenden. Wo sind denn die Romane, in denen die Liebe keusch bleibt und der Umgang mit den Menschen freundlich? Allein die Niederschrift dieses Satzes macht die Finger bleischwer vor Müdigkeit. Donald Duck ohne den geizigen und damit lasterhaften Onkel Dagobert – es wäre das halbe Vergnügen.

Nur das Laster hat uns schillernde Gestalten geschenkt wie Nero, Caligula und Elagabalus, und die Popkultur könnte ohne den Anstrich des Verruchten nicht existieren: Falco, Freddie Mercury, Dita von Teese – die Aufzählung kann beliebig lang fortgesetzt und auf Schauspieler ausgedehnt werden. "Sex and Drugs and Rock 'n' Roll": Das kommt nicht von ungefähr. Und ist lustvoll lasterhaft. Den Stars mittels der entsprechenden Berichte und Fotos in gewissen Zeitschriften ins Schlafzimmer linsen – da sind gleich zwei Laster (mindestens) bedient, je nachdem, was die Stars in ihren Schlafzimmern treiben (und würden sie das dort nicht treiben, gäbe es keinen Grund hineinzulinsen) und, ja, oh Leser, auch die Neugier, was sich dort abspielt, ist ein Laster. Was treiben Herzogin Meghan und Prinz Harry? Allein die Frage ist Kohle unter Teufels Grillrost.

Belohnung drüben, im Jenseits, gibt’s, wenn man all dem entsagt, auch der Wollust. Dann darf man auf einer Wolke sitzen, Harfe spielen und Alleluia singen – falls man auf einer Wolke sitzen, Harfe spielen und Alleluia singen als Belohnung empfindet. Der Lasterhafte hingegen wird gesiedet und gesotten, gehauen und gestochen und mancherlei mehr, wozu es der Fantasie eines Hieronymus Bosch bedarf, um es zu verdeutlichen.

Aber wenigstens hat er, der Lasterhafte, im Leben Spaß gehabt.