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Das Bad im Wald

Von Eva Stanzl und Alexandra Grass

Wissen
© AdobeStock/John Smith

Die japanische Tradition des Waldbadens stärkt Geist und Körper. Ein Erfahrungsbericht.


Es ist zehn Uhr vormittags auf dem Wiener Cobenzl und die Sonnenstrahlen sorgen für wohlige Wärme. Die Gerüche um uns herum sind Zeugen davon, dass sich der Wald nach längerem Regen in Aufbruchsstimmung befindet. Die Pflanzen präsentieren sich in saftigem Grün, die ersten Sommerblumen haben sich bereits ihren Weg durch den dichten Waldboden gebahnt. Auf einer kleinen Wiesenfläche an der Waldgrenze treffen wir die Yoga- und Mentaltrainerin Angelika Gierer. Unser Vorhaben: Waldbaden.

Wir betreten den noch mit Herbstlaub bedeckten, weichen und leise knisternden Waldboden durch ein imaginäres Tor. Schon der erste Schritt soll uns die Energie, Kraft und Ruhe spüren lassen, die dieser natürliche Lebensraum ausströmt. Schritt für Schritt tasten wir uns voran - über Geäst und Wurzeln. Tiefes, langsames Atmen lässt die energiegeladene wohlduftende Waldluft in den Körper und damit in jede einzelne Zelle strömen. Unter unseren Füßen spinnt sich ein weites Netz an Wurzelverbindungen, mit dem wir versuchen, Kontakt aufzunehmen. Wir tauchen ein in die Welt des Shinrin-Yoga.

"Shinrin-Yoga verbindet die heilsamen Erkenntnisse des japanischen Waldbadens mit der indischen Tradition von Atem-, Sinnes- und Bewusstseinsentfaltung" erklärt Angelika Gierer. Eine entschleunigte Stille-Wanderung, angereichert mit Sequenzen aus Aktiv-Meditation und erdenden Yoga-Elementen, soll uns die Anmut, die Stärke und die Geheimnisse der ältesten und größten Erdwesen - der Bäume - näherbringen. Und tatsächlich: Stress verschiebt sich in den Hintergrund. Das Waldweben öffnet eine innere Zeitoase und macht Platz für Welten des Wohlgefühls. Der Wald tut außerordentlich gut. Warum ist das so?

Wissenschaftlich belegt

Wissenschafter konnten messen, dass Waldluft um 90 Prozent weniger Staubteilchen enthält als Stadtluft. Und dass sie Stoffe beinhaltet, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Der japanische Waldforscher Qing Li weist dabei den Botenstoffen der Bäume eine zentrale Bedeutung zu. Er hat die Wirkung von Terpenen erforscht. Sie sind der Hauptbestandteil der in Pflanzen produzierten ätherischen Öle, dienen der Kommunikation zwischen den Bäumen und halten Schädlinge fern.

"Wir atmen den Duftcocktail der Bäume ein und nehmen ihn über unsere Haut auf", erklärt Li in der deutschen "Zeit". Er ließ Probanden in einem Hotel übernachten. Im Schlaf atmeten sie mit Terpenen angereicherte Luft ein. Am nächsten Tag nahmen Ärzte den Testpersonen Blut ab und stellten fest, dass die Zahl ihrer Killerzellen - also jene Untergruppe von weißen Blutkörperchen, die kranke Zellen erkennt und zerstört - deutlich angestiegen war. Waldluft regt das Immunsystem an.

Der deutsche Geruchsforscher Hanns Hatt von der Universität Bochum meldet Zweifel an. Er konnte zwar nachweisen, dass Düfte sogar dann wirken, wenn man sie gar nicht riechen kann, da die Nase alle chemischen Moleküle aus der Umgebung aufnimmt. Doch er gibt zu bedenken, dass es schwer sei, in Experimenten psychologische und pharmakologische Effekte auseinanderzuhalten. Hatt hält die Konzentration der Duft- und Botenstoffe der Bäume für zu gering, um Menschen quasi über Nacht gesünder zu machen. "Man müsste tagelang im Wald spazieren, damit die Menge ausreicht", betont er. Dass uns der Wald guttut, schreibt Hatt eher der Macht positiver Anker zu: "Die meisten Menschen erinnern sich an schöne Walderlebnisse, speziell aus der Kindheit."

Homo sapiens und die Natur

Kinder brauchen die Natur, berichtet ein Team um Myriam Preuss von der Universität Maastricht. Das Toben im Grünen schule nicht nur Motorik und Kreativität, sondern fördere auch die geistige Gesundheit. Für seine Studie wertete das Team Daten von 3585 Erwachsenen aus Spanien, den Niederlanden, Litauen und Großbritannien aus. Die Probanden wurden dazu befragt, wie oft sie als Kind in der Natur gewesen waren. Die Analysen zeigten: Wer sich als Kind häufig in Naturräumen aufgehalten hatte, schnitt in den Tests zur mentalen Gesundheit besser ab.

Evolutionär betrachtet, verbrachte der Homo sapiens den Großteil seiner Zeit in der Natur. In Japan sind Waldbesuche sogar Teil der Gesundheitsvorsorge. Der Begriff "Shinrin-yoku" für "Waldbaden" ist eine japanische Tradition. Seit 2012 gibt es an den Unis sogar einen eigenen Forschungszweig für "Waldmedizin".

Schon der Anblick von Wald tut gut. Eine der frühesten Studien zur gesundheitlichen Wirkung erschien 1984 in "Science". Demnach wirkt allein der Anblick von Bäumen messbar positiv. Patienten, die nach einer Operation aus dem Krankenhausfenster ins Grüne schauten, wurden schneller gesund als solche, die nur eine Hausmauer vor dem Fenster hatten. Die Patienten mit Baumblick benötigten auch weniger Schmerzmittel. Andere Forschungsteams haben sich mit der Wirkung von Bäumen gegen Zivilisationskrankheiten befasst. "Wald hilft gegen Depressionen, psychische Stressbelastungen und Burnout. Aber er kann auch vor ernsthaften chronischen Krankheiten schützen und sogar vor Herzinfarkt", fasst der österreichische Biologe und Buchautor Clemens Arvay zusammen.

Ob es die Luft reinigt, Wasser speichert oder Energie aus organischen Abfällen bezieht: Terpene bilden ein riesiges Kommunikationsnetz, die es den Gewächsen im Wald-Ökosystem ermöglichen, in symbiotischen Beziehungen zu leben. Gleichzeitig belebt der würzige Waldduft den Geist. Aus dem Yoga stammende Übungen bringen innere Energien in Fluss. Unter der Anleitung von Angelika Gierer brüllen wir kräftig wie Löwinnen. Das Simhasana, der Löwe, hilft, emotionale Spannungen zu lösen. Beim Aufstieg heißt es dann Summen wie Bienen. Die Bienenatmung massiert den Körper innerlich und wirkt sich beruhigend auf den Geist aus. Gestärkt und zentriert kommen wir oben an, wo wir dem Kommando "einen Baum umarmen" bereitwillig folgen.

Waldbaden reduziert Stress, fördert die Inspiration und stärkt die Empathie, erklärt Angelika Gierer. Von diesen Auswirkungen profitieren nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Teams. "Dieses nonverbale, nicht sichtbare Schulen unserer Sinne stärkt die Verbundenheit", erklärt die Yoga-Trainerin. Man erhält einen neuen, frischen Zugang zum Gegenüber, was die Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb von Teams verbessert und damit auch die Innovationskraft von Unternehmen stärkt.

Die Baumfamilien

Bäume sind Lebewesen, schreibt der deutsche Waldforscher Peter Wohlleben in "Das geheime Leben der Bäume". Wohlleben ist der Ansicht, dass die einzelnen Bäume in einem Wald sogar eine Art Familie bilden. Dies nachzuweisen, falle aber schwer, weil man es fast nicht merkt. "Bäume sind etwa 10.000 Mal langsamer als wir Menschen. Piekst man die Rinde mit einer Nadel, läuft das Signal in der Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro Sekunde zu den Wurzeln hinab, wo der Schmerz verarbeitet wird. Beim Menschen braucht ein Körpersignal von den Füßen zum Gehirn eine Millisekunde", sagt er in einem Interview mit "Arte". Den Bäumen das Recht auf Leben zu verbriefen, hält Wohlleben allerdings für zu bürokratisch. "Das kann man mit Liebe regeln. Wenn Menschen Bäume lieben, verhalten sie sich automatisch richtig."

Fast liebestrunken versunken sitzen wir, jede für sich, an ihren Baum gelehnt und lauschen dem Waldweben. Sodass wir Angelika Gierers Schlussruf beim ersten Mal überhören. Zu schön ist der Klang des Waldwebens.

Waldbaden Wien Cobenzl: jeden ersten Sonntag im Monat von 10 bis 13 Uhr.

Ausbildungen zum Waldbaden-Trainer

Infos: www.shinrinyoga.at