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Spieltrieb mit Endlosschleife

Von Alexandra Grass

Wissen

Punkte, Badges und Ranglisten beherrschen unseren Alltag - Gamification hat unsere Welt verändert.


Graz. Seit jeher wird gespielt. Kinder erlernen dadurch ihre Fähigkeiten, Erwachsene fühlen sich unterhalten. Doch immer mehr geht es nicht nur ums Spiel an sich, sondern um Punkte, Badges und Ranglisten. Vor allem Online-Games sind davon geprägt. Den Spieltrieb der Menschheit machen sich aber auch immer mehr Institutionen, Unternehmen und auch Regierungen zunutze. Kunden, Mitarbeiter und Bürger werden belohnt. Der Begriff Gamification, das Benutzen von Spielen im Nicht-Spielebereich, gewinnt an Bedeutung. Seit über 15 Jahren beschäftigt sich der österreichische Forscher Konstantin Mitgutsch mit der Frage, inwiefern Spiele unsere Welt verändern. Im Interview mit der "Wiener Zeitung" im Rahmen des Fifteen Seconds Festival in Graz sprach er über Motivation, Manipulation und die Herausforderung für die Gesellschaft.

"Wiener Zeitung":Der Mensch ist von Geburt an intrinsisch motiviert. Aus einem ureigenen Spieltrieb heraus will er lernen. Mit den Jahren scheint diese Motivation nachzulassen. Warum?Konstantin Mitgutsch: Interessant ist, dass der Mensch nur durch das Spiel zum Menschen wird. Wir spielen, wir probieren aus und haben hoffentlich die Umgebung, die uns beschützt, damit nichts passiert. Doch haben wir als Gesellschaft eine Institution geschaffen, die uns das abnimmt - die Schule. Mit starren Strukturen hört das Spielerische auf. Es wird mehr funktional. Ich mache etwas, um eine Note zu bekommen. Wir arbeiten, um Geld zu verdienen und nicht der Arbeit wegen. Wobei: Ein unerfülltes Bedürfnis bleibt in uns übrig. Dieses bringt uns dazu, Fußball zu schauen oder blöd auf Apps herumzudrücken.

Ist es nur der Spieltrieb, der Erwachsene antreibt?

Wir haben ein Bedürfnis, nicht immer ernst zu sein und nicht immer zu funktionieren. Wir haben aber auch das Bedürfnis, etwas auszuprobieren und in Rollen zu schlüpfen. Meist tun wir das versteckt, weil wir Erwachsene uns das nicht eingestehen wollen. Wir finden gute Gründe, uns einzureden, warum Spielen nicht mehr okay ist, aber das Bedürfnis bleibt.

Die Spielewelt, aber mittlerweile auch die Arbeits- und Konsumwelt, ist von Punkten, Badges und Ranglisten geprägt. Leistung und Fortschritt stehen im Mittelpunkt. Wie kam es zu der Entwicklung und welche Auswirkung hat sie?

Wir sprechen von Gamification - das Benutzen von Spielen im Nicht-Spielebereich. Man hat sich überlegt, welche Strategien von Spielen man auf ernsthafte Themen umlegen könnte. So wurde erkannt, dass extrinsische Tools Menschen zu einem gewissen Verhalten motivieren können. Es gibt nur wenige Leute, die sich nicht über eine kleine Goldmedaille freuen. Deshalb wurden Anreizmodelle geschaffen. Ein Klassiker waren früher die Flugmeilen. Jeder hat gerne gesammelt. Oft wird Gamification auch bei Unternehmen im Weiterbildungsbereich oder bei Einschulungen eingesetzt. Das ist eine clevere Variante, um die Strukturierung zu nutzen und es spaßig zu machen. Das Schulsystem hat es verbockt. Statt eines Belohnungssystems über Anreize gibt es ein Bestrafungssystem mit Noten. Das hindert Kinder daran, ihr Lernen zu vertiefen.

Gibt es auch Missbrauch?

China ist momentan das Horrorszenario. Dort wurde ein Punktesystem eingeführt, um gute Bürger zu belohnen. Mittels Data-Tracking wird kontrolliert, was ich einkaufe, wie es um meine Finanzen steht, wie meine Ausbildung ist. Gamification wird als unterstützend dargestellt. Doch gibt es bei Fehlern oder unerwünschten Handlungen auch Punkteabzüge. Diese können bedeuten, dass mir etwa Auslandsflüge verboten sind oder auch die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel. Wenn Gamification manipulativ gegen den Willen der Menschen eingesetzt wird und dann auch noch versucht, lustig zu sein, ist das eine der gemeinsten Varianten von Manipulation.

Also: Weltrettend oder ein einziger großer Betrug?

Es ist ein potentes Werkzeug. Doch wie immer im Leben kommt es darauf an, wer es wozu und warum benutzt. Setze ich mir ein Ziel und ich habe ein Tool, das mich freudvoll unterstützt, kann es allen guttun. Nutzt man es aber als Manipulation, kann es sehr gefährlich sein. Ich würde es nicht der Gamification ankreiden oder dem Spiel, sondern allein der Benutzung. Manchmal wird sehr leichtfertig damit umgegangen. Das sollte uns bewusst sein.

Sieht man sich um, hat man das Gefühl, dass sich der halbe Tag um Games dreht. Die Sozialen Medien sind ja ein Teil davon.

Ich glaube es gibt auch einen Bereich, den wir nicht unterschätzen dürfen. Das ist die Interaktivität. Wir leben in einer Welt, in der wir durch Likes und andere Bewertungen ständig Feedback erhalten. Games passen sehr gut dazu. Unsere Welt wurde auch über diese neuen Technologien so geprägt.

Was bedeutet die Entwicklung für uns als Gesellschaft?

Ich bin auch Vater und sehe große Herausforderungen an uns als Gesellschaft. Wir können es uns aber nicht leisten, es zu verurteilen. Weil es ändert nichts. Der Punkt ist, es schwappt wie eine Welle hinein und verändert uns. Sowohl Games als auch Social Media. Die Frage ist: Was tun wir jetzt damit? Mir fehlt der Diskurs über eine konstruktive Anwendung von Computerspielen. Doch wir müssen uns die Frage stellen, wie wir in einer Welt leben wollen, wo alles nur noch ein Feed ist und alles nur noch Wert hat, wenn es geliked wird. Wir sind wie die Ratten, die zum Zucker rennen.

Es lässt sich beobachten, dass sich Kinder immer wieder für Gewaltspiele wie "Fortnite" und Co. interessieren. Warum?

Tod oder Leben ist das einfachste Spiel, es ist DAS Spiel. Es zieht sich seit Jahrhunderten durch die Kinderspiele. Der Tod des Gegners ist ja der klare Win. Bei "Fortnite" geht es allerdings nicht nur um Leben und Tod, sondern vor allem um Prestige. Die Kraft dieses Spiels liegt in ein paar cleveren Varianten, die miteinander verbunden wurden. Millionen, nicht nur Kinder, lieben es und geben Millionen Euro dafür aus, um neue Figuren oder Ausrüstung zu kaufen. Hinzugekommen ist die Möglichkeit des Streamings. Ich kann anderen Leuten beim Spielen zusehen. Da sind viele Kontexte zusammengekommen, die das Spiel so extrem erfolgreich machen. Das passiert nur alle zehn bis zwanzig Jahre.

Gibt es vergleichende Beispiele aus der Vergangenheit?

Zum Beispiel "World of Warcraft". Allerdings wurde man dabei fürs Vielspielen belohnt. Da gab es diese sinnlosen Tätigkeiten wie Rasenmähen. Angeblich war auch "Tetris" einmal eines dieser Spiele. Doch die Games haben sich weiterentwickelt. Das Streaming ist heute ein wesentliches Thema dabei. Das macht auch "Fortnite" so populär. Allerdings ist dieses männerdominiert. Wenn ein Spiel herauskommt, das nicht nur weitere Komponenten und die richtigen Tricks vereint, sondern auch noch beide Geschlechter abholt, dann könnte das eine neue große Welle ergeben. Das hatten wir noch nie.

Zuletzt wurde Online-Gaming in den Katalog der Krankheiten aufgenommen. Ihre Meinung dazu?

Es ist ein ernst zu nehmendes Thema und die Tatsache von Vorteil, wenn man Unterstützung benötigt. Doch: Spiele machen nicht süchtig. Menschen haben Suchtprobleme und nützen Spiele als Instrument dafür. Ich glaube, wir leben in einer Gesellschaft, wo viele Menschen sehr einsam sind, auch sozial isoliert. Wo wir viel Zeit hinter unseren Bildschirmen verbringen. Das ist ein guter Nährboden auch für psychische Krankheiten. Dann ist das Spiel ein willkommener Anlasspunkt.

Wie sollen wir in Zukunft mit der Thematik umgehen?

Die gefährliche Dynamik ist, dass wir so tun, als ob es zwei Welten gäbe: die reale und die virtuelle. Menschen, die in dieser virtuellen Welt diese Anreizmodelle so anziehend finden, spielen mehr und mehr. Was passiert, ist, dass oft Kritik aus der realen Welt kommt. Und dann entsteht eine Lücke - auch zwischen Eltern und ihren Kindern. Ganz wichtig wäre das Interesse der Erwachsenen für ihre Kinder und zu fragen: Was machst du da? Was erlebst du da? Was ist wertvoll für dich? Dann ist es wenigstens nicht stigmatisiert. Und dann kann ich auch sagen: Achtung, du fehlst mir in meiner Welt. Wie können wir daran arbeiten? Das ist ein schwieriges Gespräch, ein Dialog, der nicht einfach ist. Es ist viel leichter auszugrenzen, als sich damit zu konfrontieren. Doch wir leben jetzt leider in einer dynamischen, komplexen Welt und müssen damit umgehen, sonst überrollt sie uns und Firmen oder Regierungen nützen uns aus.