Wien. Die Philosophie ist bekanntermaßen ein weites Land. Heuer widmet sich das Internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel der philosophischen Analyse und Kritik aktueller Geschehnisse in Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Am Sonntag startet die bis 10. August laufende Tagung, bei der 133 Vorträge auf dem Programm stehen und sich Philosophinnen und Philosophen aus aller Welt zum intellektuellen Austausch treffen. Anne Siegetsleitner, die mit ihrem Team von der Universität Innsbruck das wissenschaftliche Programm verantwortet, gibt Einblicke, was zu erwarten ist.

"Wiener Zeitung": Das Wort "Krise" ist in aller Munde, aber sind etwa Wirtschaftskrisen, die Klimakrise und die österreichische Regierungskrise nach dem Ibiza-Video überhaupt vergleichbar?
Anne Siegetsleitner: Die Philosophie will das Wort "Krise" nicht kritiklos übernehmen, sie will Schlagwörter und Phrasen nicht auf den Leim gehen. Als Philosophierende hinterfragen wir unser Verständnis von Kritik und Krise. Wir wollen weiterfragen, denn das ist eine Form der Kritik. Aktuelle Ereignisse sehen wir außerdem nicht nur in ihrer Aktualität. Die Aufgabe der Philosophie ist vielmehr, über Aktualitäten hinweg zu denken, und zwar nicht im Sinne dessen, dass etwas übergangen werden soll, sondern im Sinne von einer anderen Form der Zuwendung.

Kontrovers diskutiert wird der Brexit. Nachdem das britische Parlament das Austrittabkommen wochenlang abgelehnt hatte, scheint mit dem Hardliner Boris Johnson als neuen Premier und dem von ihm angekündigten EU-Austritt unter allen Umständen nun das Schlimmste zu drohen: Großbritannien steigt aus ohne Abkommen. Was sagt die Philosophie zu diesem Chaos?
Die Philosophie würde nicht leichtfertig ein Urteil fällen und sagen: Das ist fürchterlich schlimm. Sondern sie stellt grundlegende Fragen. Warum könnten wir von einer Krise sprechen? Was steht dahinter und was sind unsere Kriterien, um etwas so einzustufen? Es geht also nicht um schnelle Antworten auf spezifische Fragen, sondern darum, einen Schritt zurückzutreten, dahinter zu schauen und Zusammenhänge zu sehen. Die Philosophie ist aufgefordert, durch eingehendere Analysen und Betrachtungsweisen die Kritik und ihren möglichen Beitrag zu einem positiven Umgang mit diesen Veränderungen jenseits tagespolitischer Aktualität zu schärfen.
Auf welche Fragen sucht man beim Symposium Antworten?
Der deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel etwa thematisiert die Problematik, was menschenähnliche Maschinen für unser Verständnis für Autonomie und Verantwortlichkeit bedeuten. Sein Kollege Karsten Weber betrachtet Fake News, Verantwortlichkeit und die Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Sandra Laugier aus Frankreich spricht über die Anthropologie der Stimme. Ausgehend von Wittgensteins Sprachphilosophie hinterfragt sie, was sprachlicher Ausdruck als Teil der menschlichen Lebensform heißt und was die politische Stimme zu sagen hat. Was heißt es, gehört zu werden oder für andere zu sprechen? Eva Maria Engelen aus Deutschland wiederum wendet sich dem Thema Vertrauen und Zeugenschaft zu. Wem kann ich vertrauen, worauf kann ich mich letztlich verlassen?