

Nehmen wir zwei schillernde politische Figuren, die das Vertrauen ihrer Partei oder ihrer Wähler haben, Boris Johnson und Donald Trump: unterschiedlicher persönlicher Background, ähnliche Härte in der politischen Linie. Beide erfüllen eigentlich ihre Wahlversprechen. Kann man sie deswegen als integer bezeichnen - oder definieren sie diesen Begriff schlichtweg um?
Integer im Sinne eines allgemein unterstützten moralischen Kodex sind sie, wenn man nach ihren Aussagen urteilt, nicht. Was ihnen aber unterstellt wird, ist Authentizität. Sie tun, was sie jeweils - und das kann sich schnell ändern - für richtig halten. Das wird ihnen als positiv angerechnet. So gesehen kann man von einer bestimmten Umformulierung des Begriffs Integrität sprechen in dem Sinn, dass sie nicht auf Zuruf handeln. Sondern sie machen, was sie für richtig befinden, allen Mahnungen zum Trotz. Das ist eine Form von Standhalten.
Werden Hardliner gewählt, weil sie sich nicht verbiegen?
Das ist durchaus ein Aspekt. Die Leute wählen sie, weil man ihnen unterstellt, dass sie tun, was sie meinen. Das fasziniert und ist etwas, wonach man sich sehnt, denn es spricht etwas Grundlegendes an, was man bei anderen Politikern vermisst: Eine Richtschnur, und sei es nur die eigene, fehlt vielen Menschen. Sie glauben eine solche bei diesen Personen zu finden. Trump und Johnson vermitteln den Eindruck, dass sie wissen, was sie wollen, und danach handeln. Die Philosophie hinterfragt hier, was Authentizität und Integrität sind und warum wir sie als grundlegend erleben.
Und warum fasziniert der Brexit, obwohl er nichts Gutes verheißt?
Den eigenen Weg zu gehen spielt hinein. In Großbritannien hat es sicher auch mit der Geschichte als Kolonialmacht zu tun und der Frage, welchen Stellenwert das Land innehaben will. Wenn Boris Johnson sagt, ich gebe Euch Eure Führungsrolle zurück, ist das eine große Motivation für eine Gesellschaft, die sich so versteht, dass eine solche der ihr zustehende Rang ist.
Welche Rolle spielt Ehre dabei?
Ehre ist eine wahnsinnig große Motivation für ganze Gesellschaftsgruppen, ganze Nationen. Politisch ist sie sehr wichtig, das zeigte bereits die Wahl von Trump in den USA. In Interviews sagten die Menschen im Rustbelt, sie hätten lieber ihre Jobs zurück als eine Sozialhilfe, die höher ist, als ihr Lohn war. Ihre Arbeit war für sie eine ehrwürdige Tätigkeit und sie wollten den Rang, der ihnen zusteht, wieder einnehmen. Auch die Briten wollen so behandelt werden, wie sie es für eigentlich angemessen halten. Und die Ehre hat mit dem Selbstverständnis zu tun: Wer bin ich, was bestimmt mich, was macht mich aus?
In der Vergangenheit duellierte man sich um der Ehre willen.
Ehre ist eine Kategorie, die wir gemeinhin in westlichen Ländern von uns weisen, als wäre sie für uns nicht mehr relevant: Das haben wir überwunden, das gilt nur noch für andere, Ehrenmorde sind bei uns abgeschafft. Dennoch bleibt die Kategorie der Ehre unterschwellig präsent. Wir reden sehr viel von Kränkung, weil wir sie so wie viele gesellschaftliche Probleme psychologisieren. Aber um sie verstehen zu können, muss man auch ihre sozialen Aspekte sehen und was gekränkt ist, ist die Ehre.