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Fragwürdige Leitfiguren

Von Eva Stanzl

Wissen
Demonstrant bei Protesten gegen den Brexit in London mit Maske von Premier Boris Johnson.
© reu/Dawson

Unter dem Titel "Krise und Kritik" widmet sich die Philosophie beim 42. Wittgenstein Symposium aktuellen Themen.


Wien. Die Philosophie ist bekanntermaßen ein weites Land. Heuer widmet sich das Internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel der philosophischen Analyse und Kritik aktueller Geschehnisse in Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Am Sonntag startet die bis 10. August laufende Tagung, bei der 133 Vorträge auf dem Programm stehen und sich Philosophinnen und Philosophen aus aller Welt zum intellektuellen Austausch treffen. Anne Siegetsleitner, die mit ihrem Team von der Universität Innsbruck das wissenschaftliche Programm verantwortet, gibt Einblicke, was zu erwarten ist.

"Wiener Zeitung": Das Wort "Krise" ist in aller Munde, aber sind etwa Wirtschaftskrisen, die Klimakrise und die österreichische Regierungskrise nach dem Ibiza-Video überhaupt vergleichbar?Anne Siegetsleitner: Die Philosophie will das Wort "Krise" nicht kritiklos übernehmen, sie will Schlagwörter und Phrasen nicht auf den Leim gehen. Als Philosophierende hinterfragen wir unser Verständnis von Kritik und Krise. Wir wollen weiterfragen, denn das ist eine Form der Kritik. Aktuelle Ereignisse sehen wir außerdem nicht nur in ihrer Aktualität. Die Aufgabe der Philosophie ist vielmehr, über Aktualitäten hinweg zu denken, und zwar nicht im Sinne dessen, dass etwas übergangen werden soll, sondern im Sinne von einer anderen Form der Zuwendung.

Kontrovers diskutiert wird der Brexit. Nachdem das britische Parlament das Austrittabkommen wochenlang abgelehnt hatte, scheint mit dem Hardliner Boris Johnson als neuen Premier und dem von ihm angekündigten EU-Austritt unter allen Umständen nun das Schlimmste zu drohen: Großbritannien steigt aus ohne Abkommen. Was sagt die Philosophie zu diesem Chaos?

Die Philosophie würde nicht leichtfertig ein Urteil fällen und sagen: Das ist fürchterlich schlimm. Sondern sie stellt grundlegende Fragen. Warum könnten wir von einer Krise sprechen? Was steht dahinter und was sind unsere Kriterien, um etwas so einzustufen? Es geht also nicht um schnelle Antworten auf spezifische Fragen, sondern darum, einen Schritt zurückzutreten, dahinter zu schauen und Zusammenhänge zu sehen. Die Philosophie ist aufgefordert, durch eingehendere Analysen und Betrachtungsweisen die Kritik und ihren möglichen Beitrag zu einem positiven Umgang mit diesen Veränderungen jenseits tagespolitischer Aktualität zu schärfen.

Auf welche Fragen sucht man beim Symposium Antworten?

Der deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel etwa thematisiert die Problematik, was menschenähnliche Maschinen für unser Verständnis für Autonomie und Verantwortlichkeit bedeuten. Sein Kollege Karsten Weber betrachtet Fake News, Verantwortlichkeit und die Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Sandra Laugier aus Frankreich spricht über die Anthropologie der Stimme. Ausgehend von Wittgensteins Sprachphilosophie hinterfragt sie, was sprachlicher Ausdruck als Teil der menschlichen Lebensform heißt und was die politische Stimme zu sagen hat. Was heißt es, gehört zu werden oder für andere zu sprechen? Eva Maria Engelen aus Deutschland wiederum wendet sich dem Thema Vertrauen und Zeugenschaft zu. Wem kann ich vertrauen, worauf kann ich mich letztlich verlassen?

Nehmen wir zwei schillernde politische Figuren, die das Vertrauen ihrer Partei oder ihrer Wähler haben, Boris Johnson und Donald Trump: unterschiedlicher persönlicher Background, ähnliche Härte in der politischen Linie. Beide erfüllen eigentlich ihre Wahlversprechen. Kann man sie deswegen als integer bezeichnen - oder definieren sie diesen Begriff schlichtweg um?

Integer im Sinne eines allgemein unterstützten moralischen Kodex sind sie, wenn man nach ihren Aussagen urteilt, nicht. Was ihnen aber unterstellt wird, ist Authentizität. Sie tun, was sie jeweils - und das kann sich schnell ändern - für richtig halten. Das wird ihnen als positiv angerechnet. So gesehen kann man von einer bestimmten Umformulierung des Begriffs Integrität sprechen in dem Sinn, dass sie nicht auf Zuruf handeln. Sondern sie machen, was sie für richtig befinden, allen Mahnungen zum Trotz. Das ist eine Form von Standhalten.

Werden Hardliner gewählt, weil sie sich nicht verbiegen?

Das ist durchaus ein Aspekt. Die Leute wählen sie, weil man ihnen unterstellt, dass sie tun, was sie meinen. Das fasziniert und ist etwas, wonach man sich sehnt, denn es spricht etwas Grundlegendes an, was man bei anderen Politikern vermisst: Eine Richtschnur, und sei es nur die eigene, fehlt vielen Menschen. Sie glauben eine solche bei diesen Personen zu finden. Trump und Johnson vermitteln den Eindruck, dass sie wissen, was sie wollen, und danach handeln. Die Philosophie hinterfragt hier, was Authentizität und Integrität sind und warum wir sie als grundlegend erleben.

Und warum fasziniert der Brexit, obwohl er nichts Gutes verheißt?

Den eigenen Weg zu gehen spielt hinein. In Großbritannien hat es sicher auch mit der Geschichte als Kolonialmacht zu tun und der Frage, welchen Stellenwert das Land innehaben will. Wenn Boris Johnson sagt, ich gebe Euch Eure Führungsrolle zurück, ist das eine große Motivation für eine Gesellschaft, die sich so versteht, dass eine solche der ihr zustehende Rang ist.

Welche Rolle spielt Ehre dabei?

Ehre ist eine wahnsinnig große Motivation für ganze Gesellschaftsgruppen, ganze Nationen. Politisch ist sie sehr wichtig, das zeigte bereits die Wahl von Trump in den USA. In Interviews sagten die Menschen im Rustbelt, sie hätten lieber ihre Jobs zurück als eine Sozialhilfe, die höher ist, als ihr Lohn war. Ihre Arbeit war für sie eine ehrwürdige Tätigkeit und sie wollten den Rang, der ihnen zusteht, wieder einnehmen. Auch die Briten wollen so behandelt werden, wie sie es für eigentlich angemessen halten. Und die Ehre hat mit dem Selbstverständnis zu tun: Wer bin ich, was bestimmt mich, was macht mich aus?

In der Vergangenheit duellierte man sich um der Ehre willen.

Ehre ist eine Kategorie, die wir gemeinhin in westlichen Ländern von uns weisen, als wäre sie für uns nicht mehr relevant: Das haben wir überwunden, das gilt nur noch für andere, Ehrenmorde sind bei uns abgeschafft. Dennoch bleibt die Kategorie der Ehre unterschwellig präsent. Wir reden sehr viel von Kränkung, weil wir sie so wie viele gesellschaftliche Probleme psychologisieren. Aber um sie verstehen zu können, muss man auch ihre sozialen Aspekte sehen und was gekränkt ist, ist die Ehre.

Ist die Tendenz zu Rechts in westlicher Politik eine Krise der Ehre?

Wenn Vorstellungen dessen, was einem zusteht, mit der persönlichen Identität verbunden werden, ergibt sich eine Sicht dessen, was nicht mehr zugestanden wird. Darum wird gekämpft. Wo etwas mit persönlicher Identität zu tun hat, wird der Kampf hart geführt. Wir sprechen dann nicht mehr von Ehre, sondern von Selbstachtung. Ich bin mir schuldig, das eine oder andere zu tun oder nicht zu tun. Diese Haltung kann mit Normen verbunden sein, die wir vielleicht kritisieren. Dennoch ist es eine Haltung, in der uns etwas so wichtig ist, dass wir ohne sie nicht in den Spiegel schauen könnten.



Zurück zum Ausgang: Was ist Krise und warum reden wir so schnell von Krise?

Ich denke nicht, dass der Begriff überall angebracht ist, wo er verwendet wird. Nicht jede Veränderung ist eine Krise, sondern Krise ist eine grundsätzliche, fundamentale Erschütterung. Ein Beispiel: Dass einmal etwas passieren kann oder jemand lügt, ist nicht grundsätzlich erschütternd. Aber wenn man sich auf Beweise nicht mehr verlassen kann, erschüttert das wohl. Nehmen wir an, wir decken eine Lüge auf, aber die Beweismittel entpuppen sich als gefälscht. Wenn wir nicht wissen, wie wir die Fälschung aufdecken sollen, kann man schon eher von Krise sprechen, denn dann muss man alles in Frage stellen und das ist grundlegend. Wenn die Grundlagen, die wir voraussetzen und an denen wir uns festhalten, wegbrechen oder zu sehr ins Schwanken geraten, ist das ein guter Grund, von Krise zu sprechen und die Lage also solche wahrzunehmen.

Worin besteht im Lichte dessen die Klimakrise?

Das Klima selbst ist nicht in der Krise, und dass es sich ändert, ist ebenfalls noch nicht die Krise. Sondern es sind die Auswirkungen auf die Menschen, die unsere Existenz erschüttern werden, wenn die klimatischen Veränderungen wie prognostiziert eintreten. Wenn es so kommt, werden sich Grundpfeiler und Grundeinordnungen verschieben. Viele Menschen werden sich global auf den Weg machen, Bevölkerungen sich verändern, anders zusammensetzen und an anderen Orten ihre Zelte aufschlagen müssen. Dann wird es angebracht sein, diesen Zustand als Krise mit unterschiedlichen Auswirkungen auf Menschen und Regionen zu bezeichnen.extra - Seite 37