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"Im Kosmos denkt das Gehirn in 3D"

Von Eva Stanzl

Wissen
Im All haben Astronauten eine andere optische Wahrnehmung.
© adobe stock/Vadimsadovski

Ist eine Stunde auch im Weltraum eine Stunde? Nicht unbedingt, sagt der Nasa-Neurobiologe Gilles Clement: Die Astronauten nehmen die Zeit als kürzer wahr und jede Bewegung als dreidimensional.


Reisen ins All fordern nicht nur das technische Können, sondern auch den Kopf. Da der Mensch nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, fehlen ihm die Referenzpunkte für den Raum. Zudem nimmt er die Zeit anders wahr, sagt der Neurobiologe Gilles Clement, der den Effekt der Schwerelosigkeit an Astronauten für die Nasa untersucht. Der Forschungsdirektor des Instituts für Neurowissenschaften im französischen Lyon referiert am Samstag beim "Brainstorms"-Festival in Wien, das internationale Experten zu Hirnforschung und Künstlicher Intelligenz geladen hat. Der "Wiener Zeitung" gab er ein Interview vorab.

"Wiener Zeitung": Ihr Forschungsgebiet ist die Mikrogravitation, die Menschen und Objekte schwerelos erscheinen lässt. Welcher Zustand ist das genau?Gilles Clement: Wir sagen Mikrogravitation zum Zustand auf der Internationalen Raumstation (ISS), die über der Erde in einer Höhe von 300 bis 400 Kilometer kreist. Dort existieren noch ein klein wenig Schwerkraft und Atmosphäre. Ich erforsche, wie dieser Zustand die Wahrnehmung verändert.

Wie ändert Mikrogravität die Wahrnehmung?

Auf der Erde stehen wir senkrecht und schätzen die Entfernung unserer Augen zum Boden ab. Aus dieser Position bemessen wir auch die Entfernung von Objekten. In der Schwerelosigkeit schweben wir frei, verlieren die Position. Alles, was wir in der Räumlichkeit erblicken, in der wir uns befinden, ist uns sehr nahe, weil die Räumlichkeiten im All beengt sind. Alles außerhalb ist aber sehr weit weg, die Sonnenpaneele an der Außenseite der ISS sind 100 Meter entfernt, die Erde 400 Kilometer, die Sterne Millionen von Kilometern. Es gibt also nichts in mittleren Entfernungen von fünf oder zehn Metern. Zudem fehlen die vertikalen Linien von Häusern oder Bäumen und die Horizontalen von Straßen, Wegen oder dem Horizont, und damit die Perspektive. Dem Gehirn fehlen Hinweise für Tiefe und Distanz und damit für Größe. Unsere Tests haben gezeigt, dass die Astronauten auf der ISS eine andere Wahrnehmung haben. Einen Würfel sehen sie als Quader, weil die Seitenlängen anders erscheinen. Objekte erscheinen länger und tiefer. Zudem unterschätzen die Astronauten Entfernungen: Je weiter ein Objekt entfernt ist, desto größer ist die Fehleinschätzung. Bei Außenarbeiten auf der ISS benötigen sie spezielle Messgeräte, damit sie keine Fehler machen können, wenn die Augen das falsche Maß ansetzen.

Wie ist es mit der Perspektive?

Sie kann sich umkehren. Menschen im All können Objekte aus verschiedenen Winkeln sehen, weil sie ja ständig die Position ändern und Objekte auch von unten betrachten.

Was passiert mit der Zeit? Schätzen Astronauten im All die Uhrzeit nach irdischen Gesichtspunkten richtig ein?

Unser derzeit laufendes Experiment an drei Astronauten auf der ISS ist das erste seiner Art. Es zeigt sich, dass man im All Zeitspannen als kürzer einschätzt als auf der Erde. Die Astronauten überschätzen, wie lange etwas her ist, aber unterschätzen, wie lange sie für etwas brauchen. Eine Hypothese dazu ist, dass die zeitliche Wahrnehmung mit der eigenen Bewegungsgeschwindigkeit in Verbindung steht. Auf der Erde wissen wir, wie lange man braucht, um die Strecke von A nach B zu gehen. Im Weltraum bewegen wir uns aber nicht mit den Beinen und weniger rhythmisch. Astronauten schweben, drücken sich ab, übersetzen diese Energie in Bewegung langsamer und müssen sich an Handläufen festhalten, um die Richtung zu ändern. Jede Bewegung wird sorgsam ausgeführt, um nicht aus der Bahn zu geraten. Deswegen verspäten sich Weltraum-Teams zumeist bei der Arbeit. Wenn sie meinen, 45 Minuten für eine Sache gebraucht zu haben, war es in Wirklichkeit eine Stunde. Es fehlt die Orientierungshilfe für Zeit.

Was passiert dabei im Gehirn?

Unser Denkorgan ist extrem plastisch. Es hört nicht auf, neue Regeln der Wahrnehmung zu lernen. Auf der Erde erscheinen weiter entfernte Objekte blasser. Im All lernt das Gehirn, dass diese Regel nicht gilt. Dort erschient alles kontrastreich. Also sucht es sich neue Anhaltspunkte. Wenn Astronauten zur Erde zurückkehren, haben sie vorübergehend Schwierigkeiten, sich zu orientieren, weil sich das Gehirn an die Schwerkraft zurückgewöhnen muss.

Wie schwierig ist eine Landung auf dem Mars nach sechs schwerelosen Monaten in einer Raumkapsel?

Die Raumfahrer müssten manuell landen. Dafür ist die Abschätzung der Entfernung sehr wichtig. Der Mars hat ein Drittel der Anziehungskraft der Erde. Man kommt also von der Schwerelosigkeit zurück zu einer Schwerkraft. Da das Gehirn sich schnell zurückgewöhnt, sollte es keine Schwierigkeiten geben, aber zugegeben: Ganz einfach wird das nicht sein.

Was passiert im Gehirn, wenn es zur Schwerkraft zurückkehrt und sich, wie Sie sagen, wieder zurückgewöhnt?

MRT-Scans am Boden haben gezeigt, dass das Gehirn nach einem Weltraumflug für bestimmte Aufgaben nicht exakt dieselben Regionen benutzt wie vor dem Flug. Andere Netzwerke und Verbindungen kommen zum Zug, die beim Lernen eingesetzt werden. Meine Theorie ist, dass wir uns am Boden in zwei Dimensionen bewegen. Wir gehen und denken vorwärts, rückwärts, rechts oder links. Im Kosmos bewegen wir uns jedoch in 3D, da nicht nur die Oberfläche, sondern auch das Volumen ins Spiel kommt. Auf der Erde haben wir räumliche Landkarten im Kopf. Sie sind zweidimensional, so wie das GPS. Im All müssen wir dreidimensionale Raum-Landkarten konstruieren, weil wir uns nicht nur vorwärts oder rückwärts, nach rechts oder nach links, sondern auch hinauf und hinunter bewegen. Um in drei Dimensionen zu navigieren, benötigen wir andere Bereiche des Cortex, die diese Leistungen vollbringen. Das zeigten MRT-Scans nach Parabelflügen. Involviert sind der Hippocampus sowie die Bereiche für Erinnerung und räumliche Orientierung.

Erst im Weltraum werden wir zu dreidimensionalen Wesen?

Absolut. Es ist ein wirklich verwirrendes Umfeld. Man muss lernen, sich zu bewegen wie Fische im Wasser. Deswegen erleben Astronauten das Volumen der ISS als größer als ihr Modell auf der Erde, in welchem sie trainieren.

Brächte die Besiedelung des Weltraums evolutionäre Veränderungen im Menschen?

Nach einer längeren Zeit im Weltraum würden wir uns wohl verändern. Denn im All fallen viele Beschränkungen weg. Man benötigt weniger Energie, um sich fortzubewegen. Da die Fortbewegung auf Erden oder von der Erde weg ein permanenter Kampf gegen die Schwerkraft ist, musste der Mensch große Extremitäten und große Muskeln entwickeln, um seine aufrechte Position aufrecht erhalten zu können. Das wiederum erfordert eine Regulierung des Blutdrucks, damit das Blut nicht nur zu den Füßen fließt. In der Schwerelosigkeit würde all dies entspannter laufen. Der Blutdruck müsste beim Positionswechsel nicht mitarbeiten. Die Muskeln würden im Ruhezustand verweilen, aus diesem Grund verliert man im All Muskel- und Knochenmasse. Irgendwann würden wir auch kein Skelett mehr brauchen, und keine Beine mit großen Muskeln. Vielleicht würden wir ein sensibleres Gleichgewichtssystem entwickeln, das sich wie Fische perfekt in drei Dimensionen bewegt. Es könnte sein, dass wir flossenartige Fortsätze entwickeln, um im All zu schwimmen. Allerdings hätten wir dann ein großes Problem, wenn wir auf die Erde zurückkehren wollen.

Zur Person~