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Diabetes Typ 1: Patienten loopen sich zu ihren idealen Werten

Von Verena Franke

Wissen
Für Diabetikerwarnhunde bedeutet ein Closed-Loop-System, dass sie künftig mit einer reduzierten Leckerli-Ration rechnen müssen. Für Betroffene und ihre Familien ist diese Therapie, die die Funktion der Bauspeicheldrüse nachahmt, eine enorme Entlastung.
© Adobe Stock/W. Cole

Closed-Loop-Systeme sind fast eine Wunderwuzzi-Therapie


Endlich einmal durchgeschlafen! Bruno, bestens ausgebildeter Diabetikerwarnhund, wacht verdutzt auf und sein Frauerl Helga H. kann es ebenfalls kaum glauben. Misstrauisch kontrolliert sie die Daten auf ihrer Smartwatch. Doch, alles im grünen Bereich. Üblicherweise warnen Bruno und ihr Blutzuckersensor mindestens dreimal pro Nacht. In einer Nacht war es elfmal. Der Piepston befiehlt ihr, entweder ein zuckriges Getränk zu sich nehmen oder dem Körper Insulin zuzuführen. Die Looper hatten tatsächlich recht: Wozu warten?

Doch von Anfang an.

Helga H. hat Diabetes Typ 1. Manifestiert hat sich die Erkrankung vor 20 Jahren. Bei gesunden Menschen wird das Hormon Insulin durch die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse bedarfsgerecht ausgeschüttet und hält so den Blutzuckerspiegel auf stabilem Niveau. Bei Diabetes mellitus - umgangssprachlich Zuckerkrankheit - funktioniert dieser Vorgang nicht. Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper gebildet werden, sodass es letztlich zu einer Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen kommt. Damit wird die Zufuhr von Insulin lebensnotwendig. Denn wenn der Wert zu hoch ist (zu wenig Insulin), drohen als Langzeitfolgen Blindheit, Nierenversagen oder Gefäßerkrankungen, die in letzter Konsequenz zu Fuß- oder Beinamputationen führen können. Ist der Glukosewert (Blutzuckerspiegel) zu niedrig, etwa weil zu viel Insulin zugeführt wurde, kann es, nach Zittern und Schwitzen, zu Ohnmacht, Koma, Hirnschaden und Herzinfarkt führen.

Geschulter Blick und trotzdem Schwankungen

Als Helga H. jünger war, maß sie mit einem Stich in die Fingerkuppe und einem Messgerät ihren Blutzucker, berechnete, gut geschult, mit einem kurzen Blick ihre Mahlzeit nach Kohlenhydraten, zog den Pen mit der nötigen Menge an Insulin auf und spritzte es sich - meist in den Oberschenkel. Trotz penibler Einhaltung aller vorgeschriebenen Berechnungen durch die behandelnden Ärzte, waren Unter- und Überzuckerungen - im Fachjargon auch Hypo und Hyper genannt - nicht zu vermeiden.

Die später anstelle des Pens verwendete Insulinpumpe gepaart mit einem Blutzuckersensor flachte zwar die starken Schwankungen ab. Die Nächte waren aber weiterhin gestört. Müde und schlapp musste oft der Alltag bewältigt werden. Der Sensor misst alle fünf Minuten selbständig den Zuckerspiegel, die Pumpe kann im Halbstunden-Rhythmus programmiert werden. Genauer geht es fast nicht - dachte Helga H.

Drei Personen brauchte es, um die technische Entwicklung voranzutreiben: Die Geburtsstunde der Do-It-Yourself-Closed-Loop-Projekte - also selbstgebastelter künstlicher Bauchspeicheldrüsen - ist auf das Engagement einzelner Personen zurückzuführen. Es war Ben West, ein Informatiker mit Typ-1-Diabetes, der fünf Jahre seiner Freizeit dafür verwendete, die Funkverbindung zwischen seiner Insulinpumpe und dem dazugehörigen USB-Stick zu entschlüsseln.

Es war auch John Costik, ein Vater, der gemeinsam mit seiner Frau und anderen Eltern eine Möglichkeit entwickelte, die Werte der Blutzuckersensoren (CGM) ihrer Kinder aus der Ferne auf einer eigens dafür eingerichteten Website auf dem PC, Laptop, Tablet, auf dem Smartphone oder der Smartwatch betrachten und gegebenenfalls einschreiten zu können. Diese Plattform heißt heute Nightscout. Ihr Logo ist eine wachsame Eule.

Und es war Dana M. Lewis, eine junge Frau mit Typ-1-Diabetes, die ihre CGM-Alarme aufgrund eines zu tiefen Schlafes nicht hörte und mit ihrem heutigen Mann, einem Programmierer, nach einer Lösung suchte.

Ihrer aller Ziel war eine Nachahmung der Funktion der Bauchspeicheldrüse und ihrer natürlichen Insulinabgabe. Was man dazu brauchte? Das Internet, eine Insulinpumpe, einen USB-Stick, um die Werte der Pumpe auszulesen, einen Blutzuckersensor, den man auf Nightscout hochlud, und einen Algorithmus, der seit Jahren erfolgreich in der Regelungstechnik eingesetzt wird. Et voilà! Das Closed-Loop-System, also ein System, das selbständig funktioniert, war geboren. CE-Zertifizierungen gibt es dafür freilich noch keine, der Patient übernimmt allein die volle Verantwortung.

Eine gewisse Affinität zur Technik ist dabei Voraussetzung. "We are not waiting", also "wir warten nicht", nennt sich diese Bewegung, die aus Loopern, Programmierern und auch Ärzten (sie stehen nur beratend zur Verfügung) besteht und sich gegenseitig unterstützt. Denn von Ärzten empfohlen wird diese Therapie noch nicht.

Jedoch: An österreichischen Kliniken wird zurzeit eine künstliche Bauspeicheldrüse für Kleinkinder bis zum Volksschulalter getestet. Es gibt rund 1600 Kinder in Österreich unter 15 Jahren, die an Diabetes Typ 1 erkrankt sind. Das System wurde an der University of Cambridge (UK) unter Roman Hovorka entwickelt.

Herzstück ist eine auf einem Smartphone installierte App, die anhand der vom Blutzuckersensor gemessenen und übermittelten Werte die benötigte Menge an Insulin berechnen kann. Hovorka versucht, für diese App eine CE-Zertifizierung als Medizinprodukt zu bekommen, und er hat sie bereits eingereicht. Nun muss der Zulassungsprozess durchlaufen werden. Die Hauptstudie startete kürzlich an der Med-Uni Graz und den medizinischen Universitäten Innsbruck und Wien. Die Universitäten in Leipzig, Cambridge, Leeds und Edinburgh sind ebenfalls Teil des Forschungsnetzwerks.

Beeindruckende Looper-Bewegung

"Wenn der Sensor misst, dass der Blutzucker steigt, dann wird die Basalrate erhöht, wenn er fällt, schaltet sich die Pumpe aus. Das passt sich alle fünf Minuten an", so die Grazer Studienleiterin der medizinischen Universität Graz Elke Fröhlich-Reiterer zur "Wiener Zeitung". "Ich finde diese Entwicklung der Looper beeindruckend, aber für Kinder sehe ich es etwas kritisch. Als Arzt darf ich nichts empfehlen, das nicht zertifiziert ist", sagt Fröhlich-Reiterer zu den "Do-It-Yourself"-Patienten. Und wenn bereits loopende Eltern die Ambulanz mit ihren Kindern besuchen würden? "Ich könnte es gar nicht, ich kenne das System nicht gut genug", meint die Studienleiterin.

Eigentlich gibt es laut Birgit Rami-Merhar, Leiterin der Diabetesambulanz des AKH Wien und Studienteilnehmerin, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" bereits ein zugelassenes System: "Es arbeitet aber sehr konservativ, und man muss immer noch blutig messen. Ich habe gerade einen 18-jährigen Patienten gehabt, der sich never-ever wieder in den Finger stechen würde." Sie würde aber diese Behandlungsform "nicht als Wunderwuzzi-Therapie verkaufen, denn es gibt noch viele Dinge, die nicht funktionieren, wie der Sensor fällt aus, der Katheter wird locker. Aber es ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung."

Sicher ist, dass mit einem Closed-Loop-System die Lebensqualität der ganzen Familie verbessert wird, denn "die Kinder haben stabilere Werte und alle sind entspannter". Das unterstützt auch Fröhlich-Reiterer: "Ich habe eine Mutter, die so ein Gefühl für ihre Tochter und deren Diabetes hat, dass sie es mit diesem System geschafft hat, an einem Tag sogar 98 Prozent der Zeit in der optimalen Blutzuckerhöhe zu sein. Das ist großartig."

Auch Helga H. geht es ähnlich: Die Zahl der gefährlichen Über- und Unterzuckerungen hat sich minimiert, durch die nun erholsamen Nächte ist sie auch leistungsfähiger. Nur Bruno sieht diese Entwicklung nicht so positiv: Seine Ration an Leckerlis bei Hypos hat drastisch abgenommen.