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Computer von Intelligenz "himmelweit weg"

Von Eva Stanzl

Wissen
"Das Gehirn ist komplexer, als wir uns vorstellen können - wir sind mit Abstand intelligenter als künstliche Systeme", sagt der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer.
© getty images/ullstein bild/Günther Ortmann

Wir leben alle in unserer Matrix, können uns aber verständigen. Maschinen können das so nicht, sagt Hirnforscher Wolf Singer.


Wolf Singer geht es um den Kern des Menschseins. Der weltweit führende Hirnforscher untersucht, was beim Sehen, Denken oder Erinnern im Kopf vorgeht. Bloß sechs Prozent der Gehirnaktivität wird von außen über die Sinnesreize ausgelöst. Der Rest kommt von innen, also aus uns selbst, erklärte er diese Woche bei einem Vortrag im Zentrum für Molekulare Biotechnologie in Wien. Das heißt: Jeder Gedanke und jede Wahrnehmung ist das Ergebnis von Millionen Verdrahtungen in unserem Denkorgan. Der "Wiener Zeitung" gab Wolf Singer am Rande seines Vortrags ein Interview.

"Wiener Zeitung": "Rätsel Bewusstsein: Wie das Gehirn die Welt erschafft", titelt das "Spektrum der Wissenschaft" aktuell. Die Kernaussage ist, dass unser Denkorgan nicht Sinneseindrücke zu einem Abbild der Welt zusammenfügt, sondern zuerst Prognosen über die Umwelt trifft und diese erst dann mit den Sinneseindrücken abgleicht. Somit leben wir in einer Art kontrollierten Halluzination in unserer eigenen, einzigartigen Welt. Ich hatte heute früh Appetit auf ein weiches Ei. Wer hatte den Appetit? Wer bin ich? Ist der Appetit oder das Ei eine Illusion?Wolf Singer: Um überhaupt in der Lage zu sein, Wahrnehmungen zu haben, müssen Sie auf Vorwissen zurückgreifen, das in Ihrem Gehirn gespeichert ist. Die Sinnessignale, die ja nur spärlich zur Verfügung stehen, müssen Sie aufgrund dieses Vorwissens interpretieren. Vorwissen haben Sie zum Teil über die Gene, da die Architektur des Gehirns Ausdruck des Wissens über die Welt ist. Das Weltmodell ergänzen Sie durch eigene Erfahrung, sobald sie geboren sind. Auch Erfahrungen werden in den Verbindungen zwischen den Nervenzellen gespeichert und im Laufe der Zeit entweder konsolidiert oder abgeräumt. Jeder Mensch hat ein anderes Schema im Kopf.

Ist Ihr Frühstücksei anders als meines?

In der dinglichen Welt, in der wir aufwachsen, haben alle Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und ähnlicher genetischer Ausstattung auch ein ähnliches Vorwissen. Deshalb wird das Frühstücksei, das Sie interpretativ erzeugen, aufgrund der Signale und Ihres Wissens über Eier so sein, dass Ihre Wahrnehmung davon meiner nahe ist. Mit Wahrnehmungen von Wirklichkeiten aus der kulturellen Welt ist es anders, weil hier die Erfahrungen weiter auseinandergehen. Jemand, der in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen ist, wird soziale Signale anders wahrnehmen als Sie, weil er ein anderes Schema im Kopf hat. Er wird es aber genau so konkret für sich selbst wahrnehmen wie Sie. Deswegen kann man auch nicht davon ausgehen, dass etwas richtig ist, nur weil eine Mehrheit es so wahrnimmt.

Wir leben also nicht alle in unserer eigenen Matrix?

Schon, subjektive Wahrnehmungen sind immer an die Person gebunden, wir erschaffen uns unsere Wahrnehmungen selbst. Aber sie sind vergleichbar, denn wir können uns darüber verständigen. Wir haben Worte, können ein Glas benennen und haben keine Schwierigkeit, uns darüber zu einigen, dass es ein Glas ist. Wenn Sie sich die Welt vorstellen, indem Sie die Augen schließen und auf das gespeicherte Wissen zurückgreifen, erzeugen Sie Erregungsmuster, die diesem Frühstücksei zum Beispiel entsprechen und sekundär bestimmte Emotionen erzeugen, wie Appetit. Jemand aus einem anderen Kulturkreis wäre vielleicht erstaunt, dass sie das Ei kochen, aber er könnte sich mit Ihnen verständigen, dass es sich um ein Ei handelt. Eine Fledermaus, die mit Ultraschall ortet, hat wahrscheinlich ein völlig anderes Konzept von Raum und Zeit. Aber Menschen aus gleichen Kulturkreisen haben hübsch ähnliche Welten im Kopf.

Sie sind der Ansicht, dass es keinen freien Willen gibt. Woher kommt aber das Gefühl, frei zu sein und Entscheidungen selbst zu treffen?

Das kommt daher, dass wir über die Vorgänge im Gehirn und deren Ablauf kein Wissen haben. Wir spüren das Gehirn beim Arbeiten nicht und merken nicht, welche interpretativen Leistungen es vollbringen muss, bevor wir etwas wahrnehmen können. Das Gehirn serviert uns nur das Ergebnis seiner Berechnungen und dann nehmen wir wahr, was es ausgerichtet hat. Ähnlich ist es mit Entscheidungen. Ihnen wird nur ein ganz kleiner Teil dessen bewusst, was im Gehirn an Argumenten verhandelt wird, damit diese und nicht jene Entscheidung fällt. Wenn sie aber gefallen ist, schreiben Sie diese sich selbst zu und gehen davon aus, dass alle Variablen von bewussten Vorgängen abhängig waren, da Sie zu anderen keinen Zugang haben. Aus der Perspektive der dritten Person aber ist Ihre Entscheidung die Fogle von deterministischen, neuronalen Prozessen.

Ein Beispiel?

Wenn Sie jetzt beschließen, aufzustehen, weil ich Ihnen lästig werde, haben Sie zwar das Gefühl, aus freiem Willen gegangen zu sein. Objektiv gesehen haben sich aber in Ihrem Gehirn langsam Aktivierungsmuster aufgebaut, die die emotionalen Zentren dazu brachten, ein ungutes Gefühl zu erzeugen, das Sie loswerden wollten, und die Möglichkeit dazu ist, aufzustehen. Dieser Impetus formuliert sich im Gehirn. Da Sie tatsächlich aufgestanden sind, schreiben Sie diese Entscheidung sich selbst zu. Das ändert aber nichts daran, dass sie die Folge von neuronalen Prozessen ist, die den Naturgesetzen gehorchen und damit auch dem Kausalgesetz, das die Folge einer Kette von Bedingtheiten ist. Manchmal gibt es Zufälle, etwa wenn zwei Wege gleich viel wiegen. Dann wählt das Gehirn einfach einen aus.

Wie bilden sich aus materiellen Vorgängen - etwas kaufen, spazierengehen - immaterielle Vorgänge - also Gedanken, Gefühle, Intuition oder Glaube?

Nehmen wir an, unsere Vorfahren saßen vor ihrer Höhle und merkten, dass eine Person großzügig und eine andere habgierig ist. Diese immateriellen Qualitäten kann jeder erkennen, ähnlich wie die Inhalte von Glaubenssystemen, normativen Systemen oder Zuschreibungen. Soziale Realitäten entstehen, indem sich kognitive Agenten verständigen und der materiellen Welt eine Schicht hinzufügen. Obwohl diese Schicht immateriell ist, ist sie sehr wirkmächtig und erhält durch soziale Wechselwirkungen zusätzliche Dimensionen. In einem System von Gehirnen könnte man diese Art der Aktivität beobachten.

Kann künstliche Intelligenz mithalten?

Sie ist himmelweit weg. Wir sind mit Abstand intelligenter. Wir reden von völlig verschiedenen Architekturen und Rechenoperationen. Derzeit gibt man künstlichen Systemen ein bestimmtes Eingangsmuster und sorgt dafür, dass am Ausgang ein bestimmter Transistor besonders stark erregt wird, indem man Gewichte an inneren Verdrahtungen ändert. Bilder von 100.000 Verkehrsschildern bewirken irgendwann die gewünschte Reaktion. Das ist aber nur der Bezug zwischen einem Eingangs- und einem Ausgangsvektor. Im Gehirn ist der Informationsfluss reziprok gekoppelt, es entstehen dynamische Zustandsräume. Außerdem kennen künstliche Systeme keine kulturelle Evolution, in der sie Gruppen bilden oder Erziehung durchmachen.

Kann man aus evolutionären Tendenzen Prognosen machen, wie sich das Gehirn des Menschen entwickeln wird?

Nein. Evolution ist grundsätzlich nicht voraussagbar, weil sie ein nicht-linearer Prozess ist, der sich selbst organisiert. Es kann sein, dass sich der Mensch als Fehlversuch erweist und ausstirbt. Sollten seine Gehirne aber größer werden, müssten wir unreifer geboren werden, weil der Kopf sonst zu groß für den Geburtskanal wäre. Video-Clips mit immer schnelleren Schnitten, die enorm reich an Reizen sind, könnten zudem gerade bei Kindern Sucht auslösen. Diese schnellen Wechsel und Bewegungen können gefährlich werden, weil sie die Aufmerksamkeitsspanne senken. Man lernt nicht mehr, sich über lange Zeit zu fokussieren.

Unsere Gehirne werden mit uns immer älter, es droht die kollektive Geriatrie, Demenz ist eine Volkskrankheit. Müssen wir wirklich verblöden oder können wir etwas dagegen tun?

Das Gehirn bildet keine neuen Zellen im Erwachsenenalter. Es muss mit der Hardware auskommen, die mit 25 Jahren fertig entwickelt ist. Wie alle Organe nutzt es sich ab. Nervenzellen leben nicht ewig, Schadstoffe werden angehäuft. Man kann es vielleicht von toxischen Substanzen säubern oder ihre Anhäufung reduzieren, aber wie weit das geht, weiß keiner. Noch gibt es keine Arzneien, um Alzheimer-Degenerationen zu therapieren. Das Beste, was wir im Augenblick tun können, ist, das Gehirn zu trainieren.

Zur Person~ Wolf Joachim Singer, geboren 1943 in München, ist ein führender Neurophysiologe und Hirnforscher und streitbarer Bezweifler der Willensfreiheit. Von 1981 bis 2011 war er Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Seit 2011 führt er die Abteilung "Singer-Emeritus-Department" ebendort.