Zum Hauptinhalt springen

Seuchen verstärken einander

Von Eva Stanzl

Wissen
© adobe stock/Romolo Tavani

Da die Grippe kursiert, könnte das neue Coronavirus sich schneller verbreiten als angenommen.


Die Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 bringt auch in Europa das öffentliche Leben zunehmend durcheinander, zumal die Zahl der Krankheitsfälle stündlich steigt. Derzeit steckt jede Person, die die grippeähnliche Krankheit Covid-19 hat, zwei bis drei weitere an. Damit das Virus aber besiegt werden kann, müsste laut Experten jeder Patient weniger als eine Person infizieren.

Doch stimmt die Rechnung genau so? Immerhin konnte man in den vergangenen Tagen durchaus den Eindruck gewinnen, dass Sars-CoV-2 sich täglich schneller verbreitet. Komplexitätsforscher können solche Verdachtsmomente begründen. Ihnen zufolge könnte sich das Coronavirus schneller verbreiten, wenn zugleich andere ansteckende Krankheiten grassieren, wie derzeit die Grippe.

"Infektionskrankheiten, die sich gegenseitig beeinflussen, wie etwa Influenza und Lungenentzündung, folgen denselben komplexen Verbreitungsmustern wie gesellschaftliche Trends", berichtet das Team um Laurenz Herbert-Dufresne von der Universität Vermont im US-Staat New England. Und: "Wechselwirkungen zwischen Seuchen sind nicht die Ausnahme, sondern die Norm."

Wechselwirkungen verschärfen die Dynamik

Noch am Montag hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lage nicht als Pandemie eingestuft. "Wenn wir jetzt von einer Pandemie sprechen würden, würde es nicht den Fakten entsprechen und zudem unnötige Angst verbreiten," sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. "Wir sehen weder die schrankenlose, weltweite Verbreitung dieses Coronavirus, noch eine großräumig grassierende, schwere Krankheit mit unzähligen Todesfällen." Sars-CoV-2 habe allerdings "absolut das Potenzial", sich zur Pandemie auszuwachsen, warnte Ghebreyesus.

Glaubt man Herbert-Dufresnes Berechnungen, könnte das Virus diesen Punkt schneller erreichen, als der Welt lieb sein könnte. Denn derzeitige Verlaufsprognosen von Epidemien beruhen auf Modellen, die jede Seuche einzeln berechnen. Wenn also Experten für öffentliche Gesundheit pathogene Entwicklungen pro futuro abschätzen, betrachten sie Coronaviren, Ebola, Zika, Denque, Gelbfieber oder die Grippe als von einander isoliert.

Diese "simple Dynamik", wie der Forscher es nennt, beruht auf der Annahme, dass das Ausmaß einer Epidemie proportional zur Ansteckungsrate verläuft. Der Computerforscher aus Vermont und seine Kollegen von der Northeastern University und der Universität Michigan konnten jedoch berechnen, dass aus dieser einfachen eine komplexe Dynamik wird, sobald mehr als ein Ansteckungseffekt in einer Bevölkerung gegeben ist. Mikroskopische Veränderungen bei der Übertragungsrate könnten dann riesige Sprünge in der Größe der zu erwartenden Epidemie verursachen.

Derartige Muster sehen die Forschenden auch bei Phänomenen in der Gesellschaft. Innovative Technologien, Slang-Wörter oder andere ansteckende Verhaltensweisen hätten einen ähnlich durchschlagenden Erfolg. "Wenn mir zehn Freunde nahlegen, den neuen "Star Wars"-Film anzuschauen, ist das zumeist wirksamer, als wenn ein Freund dasselbe zehn Mal sagt", erklärt Herbert-Dufresne.

Wenn gleichzeitig mehrere Erreger kursieren, sind die Chancen höher, dass man einen erwischt. Da eine Ansteckung das Immunsystem schwächt, ist man für weitere Viren anfälliger. Und da ein Nießer nicht etwa nur Schnupfen, sondern auch Lungenentzündung weitergibt, machen gleich mehrere Seuchen die Runde. "Wenn Infektionskrankheiten einander bestärken, machen sie rasch ihren Weg durch ganze Bevölkerungen, bevor sie sich schließlich verlaufen, weil ihnen die Wirte abhanden kommen. Ganz ähnlich ist es mit Trends: Wenn alle ein neues Mode-Accessoir besitzen, ist es bald nicht mehr interessant", erläutert der Computerforscher.

Eine Krankheit kommtselten allein

Bleibt zu hoffen, dass Sars-CoV-2 auf ähnliche Weise verschwindet. Alle bekannten Staaten mit infizierten Personen, wie jetzt auch Österreich, ergreifen Maßnahmen, um seine Verbreitung einzudämmen. Denn noch weiß die Forschung wenig über das neue Coronavirus. Wie alle aus seiner Gruppe löst auch Sars-CoV-2 eine Infektion der Lunge aus und stirbt bei einer Heilung ab.

Laut einer umfassenden Studie zu Krankheitsverläufen in China bis 11. Februar waren von 1023 gestorbenen Patienten 829 über 60 Jahre alt. Demgegenüber verlief die Erkrankung für nur 26 Menschen unter dem 40. Lebensjahr tödlich. Der im "Chinese Journal of Epidemiology" veröffentlichten, amtlichen Studie zufolge verläuft die Krankheit in vier Fünftel der Fälle milde. Das höchste Sterberisiko bei einer Infektion haben Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, chronischen Atemwegserkrankungen und Bluthochdruck. Männer haben mit 2,8 Prozent ein deutlich höheres Sterberisiko als Frauen mit 1,7 Prozent. Im Schnitt liegt die Mortalitätsrate bei 2,3 Prozent.