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"1,5 Meter Abstand zu anderen sind das Minimum"

Von Eva Stanzl

Wissen

Komplexitätsforscher und Mediziner halten die drastischen Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus für erfolgsversprechend.


Wien. Der Wiener Komplexitätsforscher Stefan Thurner befürwortet die strengen Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Wenn die Österreicherinnen und Österreicher sich jetzt daran halten und zu Hause bleiben, könnte man "vielleicht nicht in den nächsten zwei bis drei Tagen, aber in den nächsten ein bis zwei Wochen merkliche Erfolge sehen", sagt Thurner zur "Wiener Zeitung". Als Erfolg gelte eine deutliche Verlangsamung der Verdoppelungsrate der Neuinfektionen, die derzeit innerhalb von 3,2 Tagen passiert.

"Das Ideal ist eine dramatische Reduktion der Sozialkontakte. Wer derzeit 100 Personen am Tag sieht, sollte diese Zahl um 99 Prozent senken" verdeutlicht der Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH) relativ drastisch: "Ein Abstand von 1,5 Metern zu anderen Personen ist das absolute Minimum. Schon allein wenn jemand irgendwo im Supermarkt hustet, fliegen zahllose Viren durch den Raum."

Wenn die Bevölkerung die von der Bundesregierung verkündeten weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Infektionen befolgt und sich damit die Verdoppelungszeit verlangsamt, rückt der Zeitpunkt, an dem es zu Engpässen bei Spitalsbetten kommt, um einige Tage nach hinten. Das hatte der CSH am Samstag berechnet, als die Maßnahmen noch lockerer waren, Restaurants noch täglich bis 15 Uhr geöffnet waren und Ausgangsbeschränkungen noch nicht galten. Nun berechnet ein Team um Thurner die Zahlen neu und geht von wesentlich größeren Erfolgen aus. "Wenn wir dem Virus jetzt die Stirn bieten, wird die Zahl der Neuerkrankungen zurückgehen. Dann haben wir im Herbst, wenn sich der Erreger vielleicht wieder stärker ausbreitet, schon eine Impfung gefunden oder ein wirksames Medikament erprobt. Die Belastung der Spitalsbetten wird weniger groß sein und die Intensivstationen genug Kapazitäten haben."

Am Montag wurde der dritte auf das Coronavirus zurückgehende Todesfall in Österreich gemeldet. Rund 30 Prozent der weltweit auf Sars-CoV-2 zurückgeführten Todesfälle wurden bis dahin in Italien registriert. Die 1809 bisher gemeldeten Toten machen 29,5 Prozent aller verzeichneten Fälle aus, geht aus Angaben des auf Infektionskrankheiten spezialisierten römischen Krankenhauses "Spallanzani" hervor. Barbara Keeley, Gesundheitsministerin im Schattenkabinett der britischen Labour-Partei, führt dies auf eine mangelnde Bettenkapazität in Italiens Spitälern zurück und befürchtete am Montag in einem Interview mit "Sky News", dass den Briten dasselbe Schicksal droht.

Der britische Premierminister Boris Johnson setzt kaum bis keine Maßnahmen und sieht eine Immunisierung der Bevölkerung durch Durchseuchung als die bessere Strategie. "Was die Briten tun, ist reiner Zynismus und das Zeichen einer Regierung, die keine Verantwortung in dieser Krise übernimmt. Eine Durchseuchung müssen wir nicht herbeiführen, denn diese tritt ganz von selbst ein", kommentiert Thurner das britische Vorgehen.

Die Wirkung der drastischeren Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus könnte sich schon kommende Woche in einem gebremsten Anstieg der Fallzahlen zeigen, erwartet auch der Grazer Infektiologe Robert Krause. "Am Dienstag sollte man den Effekt eventuell schon sehen können." Bei einer linearen Entwicklung wären für Sonntag 500 bis 600 Coronavirus-Fälle in Österreich zu erwarten, doch würden sich Epidemien üblicherweise exponentiell entwickeln. "Wenn es nur 450 bis 500 sind, dann schaut es gut aus", sagte der Professor an der Medizinuniversität Graz. "Wenn sich die Kurve biegt und nicht mehr exponentiell ansteigt, dann haben wir die richtigen Maßnahmen ergriffen." Dann wäre es möglich, dass Österreich das Virus regional begrenzt zum Verschwinden bringen könnte.