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Mathematiker Niki Popper: "Wir dürfen uns nicht zurücklehnen"

Von Eva Stanzl

Wissen

Täglich werden neue Zahlen zum Coronavirus präsentiert. Wie verlässlich sind sie? Datenforscher klären auf.


Zahlen sind greifbar, gelten als verlässliche Information. Von der Anzahl der Positivgetesteten bis hin zur Verdoppelungsrate: Täglich werden neue Kennziffern zum Coronavirus genannt. Doch wie robust kann die Datenlage zu einem Virus sein, das vor einem halben Jahr noch niemand kannte? "Die Daten sind überschaubar gut, noch wissen wir wenig. Aber wir können versuchen, unser Wissen zu sortieren", sagt der Wiener Mathematiker Niki Popper zur "Wiener Zeitung". Der Koordinator des Centre for Computational Complex Systems der Technischen Universität Wien liefert derzeit Berechnungen zur Covid-19-Pandemie.

"Grob gesprochen gibt es nationale und globale Daten" erklärt er: Internationale Studien gebe es zum Virus Sars-CoV-2 und zur Krankheit selbst. Auf nationaler Ebene würden Informationen zu Positivgetesteten, Genesenen, Schwererkrankten und Todesfällen teils etwas unterschiedlich ausgewertet. Jedoch zeigen alle Auswertungen die Entwicklung in einem Land. "Die Erkrankten in den Intensivstationen sind dabei die härteste Zahl, denn wir müssen genug Intensiv-Betten haben. Bei den Sterbefällen ist es anders. Manche Länder, etwa Italien, unterscheiden nicht, ob jemand am oder mit dem Coronavirus gestorben ist", sagt Popper.

Todesraten unterschiedlich

In Italien besteht der Verdacht einer hohen Dunkelziffer bei Covid-19-Todesfällen. Viele Patienten erlägen dem Coronavirus ohne ärztliche Untersuchung zu Hause und gingen damit nicht in die offizielle Statistik ein. Zu diesem Ergebnis kommen die Lokalzeitung "L’Eco di Bergamo" und die örtliche Unternehmensberatung InTwig aus dem Studium einer Datenauswertung der besonders stark betroffenen Provinz Bergamo.

Für die Österreicher findet Popper lobende Worte, warnt aber vor einem sorglosen Umgang in der Zukunft. Am Montag gab die Bundesregierung bekannt, die Geschäfte nach Ostern schrittweise wieder öffnen zu wollen, zumal die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr steigt, sondern nach drei Wochen der Maßnahmen am Sinken ist. Am Montag um 8 Uhr kam sie bei 241 zu liegen (Infektionen insgesamt: 12.008). "Wir haben die Maßnahmen bisher sehr effizient umgesetzt. Dass die Neuinfektionsrate sinkt, ist ein gemeinsamer Erfolg, den wir jetzt verteidigen müssen", betont der TU-Experte.

Das Ergebnis erklärt, warum die noch in der Vorwoche täglich diskutierte Verdoppelungsrate in den Hintergrund getreten ist. Die Verdoppelungsrate bezeichnet, nach wie vielen Tagen es doppelt so viele Erkrankte gibt wie davor. Zu Beginn der Maßnahmen ab dem 13. März waren es zwei bis drei, danach fünf bis sechs Tage, wobei die Ziffern variierten in Abhängigkeit davon, wie viel Zeit zwischen den Tests und deren Auswertung verging und welche Zeiträume verglichen wurden. "Für Intensivmediziner ist die Verdoppelungsrate nur insofern wichtig, wie viele Genesene das Krankenhaus verlassen und dass immer weniger Erkrankte ins Spital kommen. Und dieser Punkt ist jetzt einmal aktuell erreicht. Die sinkende Zahl der Neuerkrankten ist die wichtige aktuelle Größe", fasst Popper zusammen.

Damit weiterhin mehr Menschen aus den Spitälern entlassen werden als aufgenommen, ist Vorsicht geboten. "Die Simulationsmodelle zeigen, dass ein fokussiertes Vorgehen die besten Ergebnisse bringt." Konkret sieht der Simulationsexperte für die kommenden Wochen und vielleicht Monate ein Öffnen und Straffen der Maßnahmen unter engmaschiger Beobachtung so lange, bis entweder ausreichend Menschen immun sind, um den Rest vor einer Ansteckung zu schützen, oder ein Medikament oder eine Impfung gefunden sind.

Weniger Neuinfektionen

Soll heißen: Mehr testen, Arbeitsstätten mit Positiv-Ergebnissen notfalls wieder sperren, die Menschendichte stets gering halten. "Wenn wir jetzt Maßnahmen lockern, werden wir die Ergebnisse nur mit Zeitverzug sehen. In vier, fünf, sechs oder sieben Tagen - das ist die häufigste Inkubationszeit - sehen wir, ob mehr Menschen positiv testen und ins Krankenhaus kommen. Gegenzusteuern dauert dann noch einmal so lang. Wir müssen schnell bemerken, wann die Verdoppelungszahl wieder steigt. Wir dürfen uns keineswegs zurücklehnen."

Eine Größe für die Kenntnis der Corona-Fakten ist auch die Dunkelziffer. Sie bezeichnet die Zahl jener Menschen, die sich mit Sars-CoV-2 angesteckt haben, ohne es zu wissen. Weil sie keine Symptome haben, stecken sie unwissend andere an. Weil wir ihre Dunkelziffer nicht kennen, ist auch die Altersverteilung und die wahre Bedeutung von Vorerkrankungen unbekannt. Aus diesem Grund hat das Sora-Institut in der vergangenen Woche 2200 zufällig ausgewählte Personen als Querschnitt der Bevölkerung getestet. (Zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe standen die Ergebnisse noch aus.)

Studie zur Dunkelziffer

Ist aber diese Stichprobe repräsentativ genug, um die Datenbasis signifikant zu verbessern? "Sie ist insofern genug, als dass die Auswertung eines höheren Samples länger dauern und daher die angestrebte Momentaufnahme verzerren würde", sagt der Statistiker Andreas Quatember, Professor am Institut für angewandte Statistik von der Johannes Kepler Universität Linz.

Eine ähnliche Untersuchung in Island an 6000 Personen zeigte eine Infizierungsrate von 0,84 Prozent der Gesamtbevölkerung. "Umgelegt auf 2200 getestete Personen in Österreich wären 18 positiv. Bei einer Wohnbevölkerung von 8,9 Millionen Menschen käme eine infizierte auf 4050 gesunde Personen. Hochgerechnet ergibt das, dass bei (am Wochenende, Anm.) 9000 positiv Getesteten 75.000 Personen in Österreich aktuell infiziert sind. Hinzu kommt die Stichproben-Schwankung, weswegen der wahre Wert der Menschen mit Covid-19 bei 45.000 bis 110.000 liegen müsste. Wir bleiben gespannt."