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Leben im "gesellschaftlichen Experiment"

Von Eva Stanzl

Wissen

Niemand weiß, wie lange die Coronavirus-Pandemie dauern wird. Der Mensch muss lernen, mit dieser Unsicherheit zu leben.


Der Shutdown ließ sich aushalten. Trotz unbequemer Begleiterscheinungen wussten wir: Je disziplinierter wir die Maßnahmen befolgen, desto schneller sind wir sie auch wieder los, also inzwischen die saubere Luft und die Befreiung vom Konsum genießen. Doch dann kam es anders. Obwohl der Verkehr wieder tobt und in den Baumärkten sich die Menschen tummeln, sind wir nicht frei. Da das Coronavirus nicht besiegt ist, müssen wir weiterhin Abstand halten und Masken tragen - sprich uns permanent unter Kontrolle haben. Es herrscht nicht totale, sondern halbe Quarantäne, von der aber niemand weiß, wann sie zu Ende ist. Erfahrungen zum Umgang mit der Situation fehlen.

Vielen Menschen geht das Geld aus, weil ihre Auftraggeber geschlossen haben und die Staatshilfen zu klein sind, um ein Leben zu bestreiten. Die Kinder toben, weil sie zu wenig Auslauf finden, ihre berufstätigen Eltern im Homeoffice verzweifeln. Weil niemand so recht weiß, wie alte Menschen zu schützen sind, bleiben Pensionisten Gefangene in ihren Heimen, wo sie niemand besuchen darf und die sie weiterhin nicht verlassen dürfen. Ob die Maßnahmen wieder gestrafft werden müssen, weil wir bald wieder einen raketenhaften Anstieg der Neuinfektionen sehen, ist völlig offen. Ob unsere Eltern jemals wieder unbeschwert das Haus verlassen können? Wer weiß das schon.

Wer krank ist, setzt es sich zum Ziel, wieder gesund zu werden. Er weiß, dass er so lange im Bett bleiben und Medikamente schlucken muss, bis das Fieber weg ist, dann kann er wieder auf. In der jetzigen Situation sind jedoch alle gezwungen, sich ein bisschen wie Infizierte zu verhalten, denn jeder Mensch könnte Covid-19 haben. Es erinnert an das Gefühl, wenn der Partner erkrankt und unklar ist, ob oder wann er wieder gesund wird oder wie zu helfen ist. Es ist ein undefinierter Zustand, der nicht zu beeinflussen ist, einen aber betrifft und gepaart mit der Angst, dass es nie wieder gut wird, belastet. Nagende Unsicherheit.

Der Einkaufswagenals Hüter des Abstands

"Unsicherheit ist generell ein extrem unangenehmer Zustand für den Menschen. Wir streben permanent danach, Unsicherheit zu reduzieren. Das beginnt schon bei der Wahrnehmung. Wenn ich ein Objekt sehe, das ich nicht decodieren kann, interpretiert mein Gehirn Formen hinein", sagt Claus Lamm, Leiter der Abteilung sozialer, kognitiver und affektiver Neurowissenschaften der Universität Wien.

Die Vorgangsweise bei Wolkenformationen oder Rorschach-Tests überträgt sich auch auf komplexere Ungewissheiten. "Derzeit herrscht soziale, wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Unsicherheit. De facto ist es nicht möglich, sie loszuwerden, unser natürliches Streben nützt nichts. Wir müssen daher lernen, mit ihr zu leben." Auch das schafft das Gehirn - "es kann es aber besser, wenn es die Unsicherheit kanalisieren kann", erklärt Lamm. Ordnung schafft Sicherheit. In diesen Zeiten sind die Ordnungshüter die Bodenmarkierungen an den Kassen von Supermärkten, die angeben, wie lang 1,5 Meter tatsächlich sind, oder die Einkaufswägen, die schon allein wegen ihrer Größe Abstand schaffen, damit wir im Pandemiegeschehen den kleinstmöglichen Schaden anrichten.

Mit zunehmender Öffnung werden die Regeln jedoch komplexer. "Die Gefahr in einem ,gesellschaftlichen Experiment‘ wie dem jetzigen ist, dass die Regeln durch die soziale Dynamik immer schwerer einzuhalten sind", warnt Lamm. "Es ist ein Test für jeden Einzelnen, sein Scherflein beizutragen. Simple Maßnahmen, die die Selbst-Effektivität wahrnehmbar machen, sind wichtig. Damit steigt die Compliance. Und die wird zu einer neuen sozialen Norm."

Gäbe es ausreichend hochqualitative Tests für alle, wäre es anders. Dann würde sich wahrscheinlich herausstellen, dass derzeit kaum jemand krank ist. So aber müssen wir stets den Kopf einschalten und dürfen dem Instinkt, unsere Liebsten umarmen zu wollen, nicht vertrauen. Man kann also mit Fug und Recht sagen: Wir leben im Stress.

Paradoxerweise kann Stress aber nicht nur schaden, sondern auch nützen. Lamm erforscht mit seinem Team, wie sich Verhalten und Denken unter akutem Stress verändern. "Stress ermöglicht dem Menschen, Herausforderungen zu schaffen, deren Bewältigung sonst nicht möglich wäre, indem der Körper die nötige Energie zur Verfügung stellt", erläutert er.

Atomkrieg und Erderwärmung

Stresssituationen ließen uns aber auch eher gewohnheitsmäßig agieren: Wir verhalten uns so, wie es uns am leichtesten fällt. Dadurch verstärke sich ein Hang zu Aggression, freundlichem oder unfreundlichem Verhalten. Wer seine Anspannung normalerweise bei einem Bier mit Freunden lockert, dessen Ventil fällt flach. Wird es zu lange zugehalten, kann ein Domino-Effekt losgehen, der in Streit oder Gewalt überschlägt - und letztlich Regeln über den Haufen wirft. Stress beeinträchtigt die Gehirnleistung, wenn kein Ende in Sicht ist.

"Die Pandemie wirkt sich je nach Beziehungsstatus, Wohnverhältnissen und ob jemand prekär lebt oder abgesichert ist, unterschiedlich aus", sagt die Sozialpsychologin Barbara Rothmüller von der Sigmund Freud Universität in Wien. Sie hat eine Befragung gestartet, um die Auswirkungen der Maßnahmen auf Beziehungen, Freundschaften, Liebesbeziehungen und sexuelles Verhalten zu erforschen. "Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen passen ihren Beziehungen verschieden an", weiß Rothmüller: "Nicht alle Menschen empfinden das ruhigere Leben als negativ, für wieder andere ist der Mangel an physischem Kontakt sehr hart."

Ob die Menschen in der anhaltenden Ausnahmesituation neue Handlungsstrategien entwickeln, wird sich weisen. "Wichtig ist, dass wir lernen, mit dieser Unsicherheit umzugehen, weil es keine andere Möglichkeit gibt", betont Lamm. Der Mensch müsse etwas Neues lernen, und darin sei er gut. Sein evolutionärer Erfolg liege im Denken, er sei ein Generalist, der sich an Nischen anpassen kann. Und diese Fähigkeit brauche er jetzt.

"Ich bevorzuge, auf eine Richtung zuzugehen, und tue mir schwer, wenn ich diese Richtung ändern muss", berichtet Eva K., Eventmanagerin aus Wien. Im Sommer wollte sie mit ihrer Familie nach Asien auswandern. Jetzt aber weiß niemand, ob das möglich ist. "Ich habe gelernt, zu schauen, was kommt. Dadurch bin ich flexibler - ich würde sagen, ich habe etwas gewonnen", sagt Eva K.

Der US-Linguist und politische Analytiker Noam Chomsky ist der Meinung, dass die Corona-Krise eine erste Krise mit ersthaften gesundheitlichen Konsequenzen ist. Sie sei allerdings nur temporär, während die Menschheit von zwei weiteren ernsteren Krisen bedroht wird: Atomkrieg und Erderwärmung. Das relativiert viel.