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Covid könnte Welt bis 2022 in Atem halten

Von Eva Stanzl

Wissen

US-Forscher warnen vor langem pandemischen Verlauf - neuer Impfstoffkandidat erfolgreich im Tierversuch.


Geschäfte haben wieder geöffnet, Restaurants sperren demnächst auf und der Wirtschaftsmotor beginnt zu surren. Dennoch ist nichts beim Alten, denn die Planungsfähigkeit erhöht die Lockerung der Maßnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie nicht. Laut US-Forschern könnte uns das Coronavirus noch zwei Jahre beschäftigen. Das Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) der University of Minnesota skizziert drei Szenarien, die eher keine Gefühle der Erleichterung aufkommen lassen.

Alle drei Modelle gehen davon aus, dass Herdenimmunität zwar entstehen kann, es jedoch länger dauern wird als angenommen, um sie zu erreichen. Erst 2022 könnten zwei Drittel der Menschen immun gegen Sars-CoV-2 sein, was genug wäre, um den Rest zu schützen und das Virus in die Knie zu zwingen, berichten Michael Osterholm, Direktor des CIDRAP, und Kristen Moore, Medizinische Leiterin der Tulane University.

Modell Nummer eins setzt voraus, dass das Schlimmste bereits überstanden ist. Dem Corona-Ausbruch im Frühling könnten ab Sommer weitere, kleinere Wellen folgen, die nach und nach an Heftigkeit verlieren. Als Reaktion auf neue Infektionsherde müssten die Anti-Corona-Maßnahmen immer wieder gestrafft und gelockert werden, vielleicht jedoch nur lokal.

Das zweite Szenario baut auf Erfahrungen mit der Spanischen Grippe auf. Einer eher kleinen Welle im März 1918 folgten damals zwei große im Herbst und im Winter 1918 sowie eine kleinere im Frühling 2019. Für Covid-19 rechnen die Forschenden heuer mit einer zweiten Infektionswelle im Herbst oder Winter, die die jetzige weit übertrumpft, gefolgt von einigen kleineren Ausbrüchen 2021. Dieses Szenario würde laut den Forschern eine Wiederholung der strengen Lockdown-Maßnahmen der vergangenen Wochen nötig machen. Das dritte Modell skizziert ein langsames Abebben der viralen Aktivität, das keine weiteren Perioden strenger Maßnahmen erfordern würde. Welches Szenario zutreffen wird, ist offen.

Die Geschichte zeigt, dass die Regionen ihr Pandemie-Schicksal stark beeinflussen können, je nachdem, wann und wie sie Lockerungen zulassen oder straffen. Eine Studie der Maßnahmen um 1918 zeigt, dass damals die Ausgangssperren in der Stadt US-Denver zu früh gelockert wurden, als noch zahlreiche Menschen an der Spanischen Grippe litten, weswegen diese sich in einer zweiten, heftigen Welle verbreitete.

Osterholm räumt ein, dass das Coronavirus schwieriger zu kontrollieren sein könnte als die Influenza. Covid-19 hat eine längere Inkubationszeit und einen höheren Prozentsatz an Infizierten ohne Symptome, die die Krankheit unwissentlich weitergeben. Offen ist auch, ob Betroffene bereits hochansteckend sind, bevor sich Symptome bemerkbar machen. "Regierungen sollten vermitteln, dass die Pandemie wahrscheinlich nicht schnell vorbei sein wird, und die Menschen auf ein weiteres Aufflammen der Seuche gefasst sein sollten", zitiert der Sender "Bloomberg" den CIDRAP-Direktor.

Debatte um gezielte Infektionen von Menschen

Indes läuft die Arbeit an Impfungen auf Hochtouren. Das Ziel ist ein erstes Vakzin schon heuer, zumindest in kleinen Mengen. Zahlreiche Teams liefern sich dabei ein Rennen. Am Donnerstag berichteten chinesische Forscher anhand einer kleinen, im Fachjournal "Science" veröffentlichten Studie von Fortschritten: Sie wollen einen neuen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 gefunden haben, auf den Mäuse, Ratten und Makaken mit neutralisierenden Antikörpern regierten und der keine infektionsverstärkenden Antikörper auf den Plan rief, welche die Möglichkeit einer Impfung bei einigen Viren einschränken. Die Forscher empfehlen ihren Kandidaten "PiCoVacc" für erste Tests am Menschen.

Auch erste Therapien erweisen sich als wirksam. Etwa wurde das Mittel Remdesivir des US-Konzerns Gilead kürzlich zur Behandlung von Covid-19 zugelassen. Da aber noch wenig über das Virus bekannt ist, gehen die meisten Forscher davon aus, dass es zunächst kein 100-prozentig wirksames Therapeutikum geben werde.

"Wir können nicht vorhersagen, wann es Medikamente geben wird und wie gut sie wirken werden. Derzeit zielen die meisten Tests auf eine 60- bis 70-prozentige Wirksamkeit ab", schreiben die HIV-Experten Myron Cohen und Lawrence Corey in einem aktuellen Editorial in "Science". Die beiden Mediziner vergleichen die Coronavirus-Pandemie mit dem Ausbruch von Aids in den 1980er Jahren. Auch HIV habe das (in diesem Fall sexuelle) Verhalten nachhaltig verändert und zunächst "eine Kakophonie an klinischen Versuchen verschiedenster Kandidaten von unterschiedlicher Plausibilität" ausgelöst.

Damit diesmal ein Impfstoff schneller gefunden werden kann, werden unter anderem gezielte Versuche am Menschen diskutiert. Eine kleine Anzahl an Freiwilligen könnte mit dem Virus absichtlich infiziert werden, um das Pathogen, seinen Infektionsweg und Krankheitsverlauf besser kennenzulernen und Daten zu Verträglichkeit- und Wirksamkeit von experimentellen Impfungen und Therapien zu sammeln. Das Argument der Wissenschafter, die diesen Weg befürworten, ist, dass der soziale Wert über den Risiken stehe. Eine intensive ethische Diskussion müsse aber dennoch geführt werden. In der Zwischenzeit bleibt also nichts als Abstand halten, Masken tragen und Händewaschen.