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Digitalisierung kann auch Freiheitsrechte bieten

Von Eva Stanzl

Wissen

In Zeiten der Corona-Krise stehen Privatsphäre und Datenschutz vor einem Paradigmenwechsel - Corona-Apps werden kontrovers diskutiert. Wie das Gegenteil - eine digitale Demokratie - aussehen kann, erklärt Komplexitätsforscher Dirk Helbing.


"Wiener Zeitung": Die österreichische Regierung wirbt für die Nutzung der "Stopp Corona"-App: Zur Verhinderung eines neuerlichen Anstiegs nach den Öffnungsschritten sei Kontaktpersonen-Management entscheidend. Doch die App wird kontrovers diskutiert. Welche Folgen hat die elektronische Nachverfolgung von Kontakten für die Freiheit und die Demokratie?

Dirk Helbing: Immunitätspässe, Zwangsimpfungen und eine Zwangs-App wären mit demokratischen Verfassungen nicht vereinbar. Das sind im Grunde totalitäre Konzepte, die an predicitve policing erinnern: Nicht nur der vermeintlich Kriminelle steht im Verdacht, sondern auch seine Kontakte. Jetzt kann man sagen, im Fall von Corona nütze dies zur Eindämmung der Pandemie und in Europa sind sie ja freiwillig. Doch wenn bei zahlreichen Corona-Toten nicht einmal sicher ist, ob sie mit oder an dem Virus gestorben ist, muss man sich angesichts der mageren Datenlage überlegen, welche Schritte tatsächlich zielführend sind. Aber in Europa gab es immerhin die Diskussion, es nicht wie China machen zu wollen, und das schlägt immerhin Pflöcke ein dafür, wie die Digitalisierung in Zukunft zu funktionieren hat. Plötzlich mischen sich die Menschen ein. Das ist gut!

Offiziell gibt es zwar keine Zwangs-App, aber momentan gibt es bei Auslandsreisen drei Möglichkeiten: Nach der Rückkehr muss man entweder in Quarantäne gehen oder einen Test aus eigener Tasche bezahlen. Oder man lässt die App alle Kontakte aufzeichnen, um den Behörden zu bestätigen, dass niemand krank ist. Ist es also mit der Freiheit, wie wir sie hatten, vorbei?

Viele befürchten das, auch weil es bereits beim Thema "Klimanotstand" um Einschränkungen der Mobilität ging. Verbirgt sich also mehr dahinter als ein Gesundheitsproblem? In der "Corona-Krise" versuchte man, allerlei Sachen durchzudrücken, ohne dass eine demokratische Diskussion darüber geführt und eine aufgeklärte Entscheidung angesichts möglicher Alternativen getroffen wurde. Es wirkt, als steckten wir in einem Machtkampf um die Zukunft unserer Gesellschaft, doch er findet nicht mit offenem Visier statt. Der Öffentlichkeit werden Dinge, die lange geplant, aber bisher nicht durchsetzbar waren, mit dem "Corona-Notstand" plausibel gemacht.

Wofür ist Corona ein Vorwand?

Wir steuern schon seit langem auf Nachhaltigkeitsprobleme zu. Beispielsweise wird das Erdöl knapp. Doch man sagt bloß: In zehn Jahren wollen wir nur noch halb so viel CO2 ausstoßen. Ressourcenknappheit kann schnell zu einem existenziellen Problem werden, doch uns hat man vorgemacht, dass alles immer besser wird. "Macht Euch keine Sorgen, wir kümmern uns", war die Botschaft, als der Digitalstaat gebaut wurde. Jetzt aber gibt es den Klima-Notstand, den Corona-Notstand und wahrscheinlich weitere Krisen. Dass irgendwann wieder eine Pandemie kommt, war aber allen, die sich mit Krankheiten auskennen, klar. Trotzdem gab es keine Masken und keine Atemgeräte in ausreichender Menge. Das war verantwortungslos. Man rechnete damit, dass die Demokratie überfordert sein würde, steuerte aber nicht effektiv gegen. Deswegen hatten wir all das Notstandsgerede. Doch wer von Notstand spricht, ruft Notstandsgesetze herbei, und plötzlich ist die Demokratie eine Demokratur. Sie nennt sich zwar noch Demokratie, aber sie funktioniert ganz anders.

Tracking gibt es nicht seit gestern, doch bisher haben wir es einfach hingenommen, dass das Handy jeden Schritt registriert. Warum?

Auf dem Smartphone werden wir schon lange getrackt. Es wurde uns nur noch nie so deutlich ins Gesicht gesagt wie jetzt, wo man angesichts der Todesangst der Bevölkerung jene Zustimmung zum Daten-getriebenen Digitalstaat möchte, die man bisher nicht bekam. Manche wünschen sich das chinesische Modell, das durch Totalüberwachung, Zensur und digitale Verhaltenskontrolle geprägt ist. Ein solcher technologischer Totalitarismus wäre überall umsetzbar, denn Massenüberwachung haben wir allerorts. Derzeitige Alternativen sind die bargeldlose Gesellschaft, in der man Konsum und Bewegungsfreiheit ebenfalls steuern könnte, der Überwachungskapitalismus westlicher Prägung, in dem ein Konsumentenwert zukünftige Chancen bestimmt, und Städte als Geschäftsmodell, wo die Software eines Unternehmens herrscht. In jedem Fall müssen Individuen identifizierbar sein - sei es durch einloggen, chippen oder indem man Nanopartikel in Körperzellen schleust, die man dann mit elektromagnetischen Wellen identifizieren kann. Manche rechnen gar damit, dass nach dem Überwachungskapitalismus, der weiß, was wir denken und fühlen, ein Neuro-Kapitalismus kommt, der sogar unsere Wünsche und Gedanken steuerbar macht.

Exotische Vorstellungen des Gruselgenres, oder nicht? Was haben sie mit der Corona-Krise zu tun?

Die Welt ist in Not. Seit Monaten gibt es Exzesse der Zentralbanken, um das Geldsystem am Laufen zu halten. Es wird bald ein neues globales System brauchen. Wenn wir nicht aufpassen, könnte es ein mehr oder weniger totalitäres sein. Doch selbst am Höhepunkt der Corona-Krise war dies nicht durchsetzbar. Stattdessen wird jetzt darüber gesprochen, welche Anforderungen die Digitalisierung bei uns erfüllen soll. Erstmals wird das öffentlich verhandelt. Jetzt geht es um die Frage, ob die Notstands-Maßnahmen langfristig legitimiert werden können oder ob wir das nicht durchgehen lassen und sagen: Wir wollen keine Digitalisierung über die Köpfe der Leute hinweg. Wir sollten uns nicht in Panik treiben lassen. Eine digitale Demokratie ist möglich. Wir müssen alles neu denken.

Wie funktioniert digitale Demokratie?

Nur, weil wir mit einer Pandemie kämpfen, sollten wir noch lange nicht auf unsere Grundrechte verzichten. Viele der digitalen Tools, die wir brauchen und wollen, kann man nämlich so bauen, dass sie Grundwerte-kompatibel sind. Ja, das ist etwas aufwendiger. Und es geschieht leider vor dem Hintergrund eines Systemwettbewerbs. Wenn China sagt, wir wollen die Ersten sein, gerät mancher Panik und sagt: Wir müssen bei der Digitalisierung mithalten und es deswegen so machen wie China. Das ist aber falsch. Vielmehr müssen wir lernen, die Potenziale der Zivilgesellschaft zu entfesseln. Die haben wir in den letzten Jahren zurückgeschnitten, weil die Politik dachte, wir kämen um Knappheit und weniger Freiheit nicht herum.

Dem Recht auf Freiheit steht die Bedrohung eines zweiten Shutdown gegenüber, der uns alle pleite machen könnte. Was ist die Lösung?

Es muss uns klar sein, dass es um alles geht, um nichts weniger als die Grundlage unserer Zivilisation: Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit; im Fall der Triage sogar um das Recht auf Leben. Wir können das nicht dem Zufall überlassen. Wir müssen uns einmischen.

Ihre Vorschläge?

Aus meiner Sicht braucht es für das digitale Zeitalter einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das sollte ein neues, zukunftsfähiges Geld-, Finanz- und Wirtschaftssystem mit einschließen, das multidimensional statt nur profitorientiert ist. Ich wünsche mir einen fairen, demokratischen Kapitalismus. Wahrscheinlich werden wir ohne Grundeinkommen nicht durchkommen. Zusätzlich sehe ich eine Investitionsprämie, die Menschen nicht verbrauchen, sondern in Projekte investieren, die sie richtig und wichtig befinden. Mit diesem Crowdfunding für alle zugunsten lokaler Initiativen könnte die Zivilgesellschaft Projekte auf den Weg bringen. Unsere Gesellschaft muss krisenfest werden. Systeme sollten sich flexibel an Herausforderungen anpassen und sich von Schocks schnell erholen können. Das funktioniert durch Dezentralität, Diversität, Partizipation und digitale Assistenz. Der Föderalismus ist nicht am Ende - im Gegenteil.

Konkret?

Mit Blick auf globale Herausforderungen brauchen wir Glocalisierung und lokale, diverse Lösungsansätze. Städte rund um die Welt könnten in eine Art Olympiade um neue Lösungen für globale Herausforderungen eintreten. Ob Energieeffizienz, Maßnahmen gegen den Klimawandel oder mehr Nachhaltigkeit: Unis würden Lösungen entwickeln, Medien berichten, Politiker Stakeholder mobilisieren, Unternehmen klimafreundliche Produkte verkaufen. Die einen wären hier, die anderen da besser, aber alle würden vorankommen. Statt den Gürtel ständig enger zu schnallen, würden wir Städte in Innovationsmotoren verwandeln. Jede Stadt könnte jede Lösung nutzen, weiterentwickeln und mit anderen kombinieren. Es wäre ein ko-evolutionärer Prozess, der die Ideen und Stärken aller kombiniert und der Komplexität der Welt Rechnung trägt. Was mir vorschwebt, ist eine Digitalisierung, die auf Befähigung und Koordination beruht. Wenn man die Zukunft so gestaltet, müsste man nicht die Demokratie und die Freiheit opfern. Im Gegenteil.