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Der bionische Weg: Schritt für Schritt neu fühlen

Von Alexandra Grass

Wissen

Das heimische Start-up Saphenus entwickelt mit EU-Fördergeldern seine sensorunterstützte Prothese weiter.


Fehlt einem Menschen ein Bein, versucht das Gehirn weiterhin, Informationen vom nicht mehr vorhandenen Körperteil abzurufen. In Folge kommt es zu Schmerzen - den sogenannten Phantomschmerzen. Mit Hilfe einer Prothese ist es den Betroffenen zwar wieder möglich, sich fortzubewegen, doch werden im Körper dennoch die nahezu unerträglichen Reize gefeuert. Das österreichische Start-up Saphenus Medical Technology hat ein sensorgesteuertes Feedbacksystem entwickelt, das das Vorhandensein des Fußes quasi vorgaukelt. Damit wird nicht nur der Schmerz reduziert. Die Betroffenen lernen Schritt für Schritt neu fühlen.

Für diese neue Technologie wurde das Unternehmen im Rahmen des EU-Forschungsprogramms "Horizon 2020" vom EIC, dem European Innovation Council, mit einem Fördervolumen in Höhe von 1,8 Millionen Euro bedacht. "Damit hat man Ressourcen in der Hand, mit denen man sich weiterentwickeln kann", versuchte Forschungsminister Heinz Faßmann, im Rahmen eines Besuchs, Jungunternehmer zu motivieren, es Saphenus gleichzutun.

Anleihen aus der Natur

Die Sensoreinheit wird, ähnlich einem Socken, über die bestehende Prothese übergezogen. "An der Unterseite enthält sie eine eigens entwickelte und auch patentierte Sohle, die mit Sensoren ausgestattet ist", erklärt Geschäftsführer Rainer Schultheis im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Diese nehmen beim Gehen die Abrollbewegungen des Fußes auf. Mittels Funk wird diese Abrollbewegung in den Prothesenschaft, also an den Amputationsstumpf, übertragen. Dort warten kleine Motoren auf die Impulse. Ähnlich einem vibrierenden Handy überbringt die Aktoren-Einheit die Impulse an die Nerven am Stumpf. Diese nicht-invasive Informationsübertragung wird vom Gehirn als Information des verloren gegangenen Fußes wahrgenommen. "Dabei haben wird uns Anleihen an der Natur genommen, um die sensorischen Nerven wieder zu reaktivieren", schildert Schultheis. Den Betroffenen ist es damit möglich, den Untergrund wieder zu spüren. Zeitgleich nimmt der Schmerz ab. Das System lässt sich modular an jeder Prothese anwenden.

Im Rahmen einer klinischen Studie konnte bereits nachgewiesen werden, dass das Gehirn diese Signale tatsächlich als die Information des fehlenden Fußes akzeptiert. Dadurch geht der Phantomschmerz zurück oder kann vollständig eliminiert werden. In einer weiteren Studie, die im Herbst mit 50 Probanden starten soll, gilt es, nachzuweisen, ob sich mit der Technologie auch die Standsicherheit, das Gleichgewicht und das Gangverhalten verbessern lassen.

Neuartige Operationstechnik

Die Neuentwicklung bringt auch eine Veränderung der Operationstechnik bei Amputationen mit sich. Dabei können die Nervenenden so im Stumpf positioniert werden, dass sie eine optimale Reizübertragung empfangen. Mittlerweile wurden bereits neun Menschen mit diesem selektiven Nerventransfer versorgt. Derzeit nutzen zwischen 15 und 20 Betroffene dieses System.

Die Idee dazu stammt von dem Medizintechniker Hubert Egger. Er ist Experte in der Forschung mit bionischen Arm- und Beinprothesen für Menschen mit Gliedmaßen-Amputationen und hat damit bereits rund um den Globus große Aufmerksamkeit erlangt. Nach der weltweit ersten gedankengesteuerten Armprothese hat er die "fühlende" Beinprothese "Suralis" als Prototyp erschaffen. "Er ist der Daniel Düsentrieb dieser Technologie", erklärt Schultheis.

"Wir wollen Betroffenen, die in schwierigen Lebenssituationen sind, damit unterstützen, ihr Leben zu erleichtern und mehr Lebensqualität und Freude erfahren zu können", betonte Saphenus-Mitgründer, Olympiasieger Anton Innauer. "Der bionische Ansatz verbessert die Lebensqualität enorm."

Optimierung von Bewegung

Er hat sich in das Projekt nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen eingebracht, wie er sagt. Das hat "mein Interesse vom Fachlichen her" geweckt. Auch im Sport werden Druckmesssensoren zur Optimierung von Bewegungen eingesetzt und Kraftdaten erhoben. Um die Lernprozesse etwa beim Tennis, Golf oder Skifahren zu verfeinern, werden moderne Kalibrierungsmethoden angewendet. Auch das habe etwas mit Hirnplastizität zu tun.

Im Blick haben die Experten auch schon weitere Anwendungsbereiche - etwa bei Polyneuropathien. Dabei sind etwa Nerven in Armen und Beinen geschädigt. Häufig kommt es dabei zu Missempfindungen, Kribbeln, Schmerzen oder Taubheitsgefühlen. Ursache dafür ist etwa Diabetes mellitus. Aber auch Krebserkrankungen können zu dieser Symptomatik führen. "Auch da wollen wir mit unserem sensorischen Feedbacksystem helfen, dass der Patient wieder mehr Mobilität bekommt, und schlussendlich verhindern können, dass es zur Amputation kommt", so Schultheis. Die Technologie bewirkt mehr Mobilität und mehr Gangstabilität.

Gelder aus europäischen Töpfen

Saphenus arbeitet mit führenden Wissenschaftern im In- und Ausland zusammen und kooperiert unter anderem auch mit der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) im Bereich Sensorik in der Exoprothetik. Derzeit liegen die Kosten für das System bei 8000 Euro netto. Wenn es etabliert ist, soll ein Preisniveau erreicht werden, das sich die Betroffenen auch leisten können. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Kostenträger immer weniger erstatten", so der Geschäftsführer. Das nächste System soll auf jeden Fall deutlich weniger als die Hälfte kosten. Derzeit erstattet die AUVA die Kosten bei heftigem Phantomschmerz und im Zuge von Amputationen mit selektivem Nerventransfer.

Schon vor der EU-Förderung ist das Unternehmen etwa vom Austria Wirtschaftsservice (AWS) und der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) "reich beschenkt worden". Kurz vor der Corona-Zeit ist nun zusätzlich der Horizon-Zuschuss anerkannt worden. 2000 Unternehmen hatten sich beim EIC-Accelorator beworben. 200 wurden schließlich zu einem Interview nach Brüssel eingeladen. Saphenus ist eines von insgesamt 44 Unternehmen, die von der Förderung profitieren. In Österreich ist es der einzige Nutznießer.

Drei Kompetenzzentren

"Folgt dem Beispiel von Saphenus", wandte sich Faßmann an andere Unternehmen. Der EIC wird auch im nächsten Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe" wieder tätig sein. Dafür stünden künftig sogar mehr Mittel zur Verfügung, entgegnete der Minister bei dieser Gelegenheit entsprechend anderslautenden Stimmen. "Nimmt man eine vergleichbare Preisbasis und berücksichtigt dabei, dass Großbritannien ausscheidet, dann zeigt sich, dass ,Horizon Europe‘ rund 22 bis 23 Prozent mehr Mittel zur Verfügung hat", formulierte er.

Derzeit gibt es drei Kompetenzzentren, in denen die fühlende Beinprothese angeboten wird. Nämlich in Brixen in Südtirol, in Murnau in Deutschland und in Innsbruck. Das Therapiekonzept in der Rehabilitation umfasst eine neue Schule des Gehens, berichtete Schultheis. "Die Meisterklasse von amputierten Prothesenträgern ist es, in der Dunkelheit oder auch rückwärts tanzen zu können. Das kann für gewöhnlich keiner." Doch mit dem System werde das möglich sein, weil der Patient das Feedback spürt und Schritte machen kann, die er davor nicht machen konnte. Die Betroffenen sollen in der Therapie neu gehen lernen und zudem eine neue Wahrnehmung erfahren. "Dancing in the dark" kann damit zum Spüren nahe werden.