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Covid könnte sich zu Schnupfen entwickeln

Von Eva Stanzl

Wissen

Wie wird das Finalspiel von Sars-CoV-2, das die Welt erschüttert, ausgehen? Wenn genug Menschen immun sind, könnte das Virus einen bloßen Schnupfen verursachen. So wie heute die "russische Grippe", die die erste globale Pandemie war.


Die Covid-19-Pandemie ist neu, doch die Symptome sind es nicht. "Fieber und Gliederschmerzen, Geruchs- und Geschmacksverlust, Husten und starke Atembeschwerden und manchmal Übelkeit plagten die Menschheit in der Geschichte schon ein Mal pandemisch", sagt Lone Simonsen von der Universität Roskilde zur "Wiener Zeitung".

Die dänische Epidemiologin ist der Ansicht, dass ein Coronavirus Ende des 19. Jahrhunderts die erste Pandemie, die sich in atemberaubender Geschiwindigkeit um den Globus verbreitete, verursacht hat. Ihr Bericht über den Seuchenverlauf macht sich ebenso wie ein Krimi aus wie die Tatsache, dass der Erreger heute nur einen harmlosen Schnupfen verursacht. Simonsen geht davon aus, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 künftig "sehr wahrscheinlich ebenso leicht verlaufen wird".

Mysteriöses Krankheitsbild

Im Sommer 1889 tauchte ein mysteriöses Krankheitsbild zunächst bei Personen in Zentralasien auf. Mitte September gab es Fälle im Ural in der Stadt Tscheljabinsk, die Zar Alexander III. gerade an die Transsibirische Eisenbahn angeschlossen hatte. Im Oktober war die Epidemie in St. Petersburg, im Dezember in Berlin, Wien und Paris, Anfang 1890 in England.

Die mysteriöse neue Seuche wurde "russische Grippe" genannt. Mit infizierten Schiffspassagieren erreichte sie New York, Montreal, Indien und China, Ostafrika, Australien, Neuseeland und Borneo. Obwohl es noch keine Passagierflugzeuge gab, verbreitete sie sich binnen nur vier Monaten rund um den Globus. Sie wütete in drei großen Wellen und zahlreichen lokalen Ausbrüchen von 1889 bis 1895. Die Krankheit verlief in der Regel kurz und heftig, nahm jedoch, ähnlich wie Covid-19, gelegentlich einen langwierigen Verlauf mit Komplikationen.

"Ich kann mich nicht erinnern, mich je so schwach gefühlt zu haben", berichtet englische Sozialreformerin Josephine Butler im Jänner 1892 in einem im Fachjournal "The Lancet" zitierten Brief an ihren Sohn über extremen Fatique, als Folge einer "Grippeattacke" um die Weihnachtszeit. Der deutsche Neurologe Julius Althaus beschrieb "Langzeitfolgen im Nervensystem, die üblicherweise nicht von Influenza ausgelöst werden". Alle Bevölkerungsschichten erkrankten, die meisten Toten waren ältere Menschen. Weil die Infektion so ansteckend war, mussten Schulen, Geschäfte und Betriebe zeitweise geschlossen werden. Allein in Europa starben rund 250.000 Menschen, weltweit etwa eine Million.

Forscher gingen zunächst davon aus, dass der Erreger der Pandemie, die in Schwere erst von der Spanischen Grippe 1918/19 mit 25 Millionen Opfern übertroffen wurde, ein Influenzavirus des Subtyps A/H3N8, auch Pferdeinfluenza genannt, war. Lone Simonsen ist der Ansicht, dass die "russische Grippe" von dem Humanen Coronavirus HCoV-OC43 ausgelöst wurde.

Bereits 2005 hatte der belgische Virologe Marc Van Ranst von der Universität Löwen Gen-Seqenzen von HCoV-OC43 mit Rinder-Coronaviren (BCoV) verglichen. Neue Annahmen über die Mutationsrate ließen ihn zu dem Schluss kommen, dass das Virus um 1890 vom Rind auf den Menschen gesprungen sei, weshalb der Erreger der "russischen Grippe" ein Coronavirus gewesen sein könnte.

Simonsen und ihr Team überprüften die These mit modernster Computerleistung und kamen zum selben Ergebnis: Das Humane Coronavirus OC43 ist wahrscheinlich kurz vor 1890 von Kühen auf den Menschen gesprungen und trat dann seinen Siegeszug um die Welt an.

Die Bioinformatik löst Probleme aus den Lebenswissenschaften mit computergestützten Methoden. Sie hat zu grundlegenden Erkenntnissen der modernen Biologie und Medizin beigetragen, etwa der Sequenzierung des menschlichen Genoms. Mutationen können zum Beispiel in der Zeit zurückgerechnet werden. Simonsen und ihre Kollegen haben die untersuchten Viren-Sequenzen von heute lebenden Menschen und Kühen isoliert.

"Wir analysieren RNA-Sequenzen von menschlichen und bovinen Viren, um daraus das Jahr abzuleiten, in dem OC43 erstmals im Menschen vorkam", erklärt Simonsen. "Viren mutieren mehr oder weniger konstant. Sars-CoV-2 etwa vollzieht mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks etwa zwei Mutationen pro Monat", erklärt Ko-Autor Anders Gorm Pedersen, Professor für Bioinformatik in Roskilde.

Der Clou ist jedoch, dass OC43 heute nur einen harmlosen Schnupfen verursacht. Sars-CoV-2 hatte bis Freitagnachmittag zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Doch dass sein Finalspiel ähnlich ausgehen wird, "ist sehr wahrscheinlich", betont Epidemiologin. "Zahlreiche Coronaviren entwickeln sich so wie OC43. Wenn genug Menschen immun sind, dass das Virus sich schwerer verbreiten kann, könnte Sars-CoV-2 sich so verhalten wie die saisonale Influenza und andere Grippeviren, die einmal Pandemien ausgelöst haben."

Todesrate unter der Grippe

Laut einem im Fachjournal "Science" vorgestellten Modell könnte die Covid-Todesrate künftig sogar unter jene der saisonalen Influenza von 0,1 fallen, sobald das Infektionsgeschehen endemisch ist. Bei einer Endemie bleibt, ausgelöst durch Immunität und Impfungen, die Zahl der Neuerkrankungen mit geringen Schwankungen auf stabilem Niveau. "Die vier Coronaviren, die eine Erkältung auslösen, zirkulieren seit langem im Menschen. Fast alle bekommen sie schon als Kind, was später im Leben vor schweren Verläufen schützt", betont Studienautorin Jennie Lavine von Emory University in Atlanta.

"Viren haben das Interesse, möglichst viele Menschen zu infizieren, nicht den Wirt umzubringen", bekräftigt Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Österreichs "Wissenschafterin des Jahres" 2020. So seien etwa Herpes-Viren hochangepasst an die Bevölkerung: Sie haben eine hohe Infektionsrate und verbleiben im Menschen oft viele Jahre. Ebola-Viren hingegen bringen viele Menschen rasch um, das macht sie insgesamt weniger effizient. "OC43 hat vermutlich so angefangen wie Sars-CoV-2 und sich dann angepasst. Mittlerweile kommt man mit OC43 schon als Kind in Kontakt und ist dann als Erwachsener nicht mehr so stark betroffen. Das könnte bei Covid-19 auch so kommen", betont Elisabeth Puchhammer-Stöckl.