Menschen, die kritisch zur Corona-Impfung und zu den die Pandemie begleitenden Maßnahmen stehen, führen immer wieder verschiedenste Gründe an, um ihr Verhalten zu verteidigen. Einer dieser liegt in der Fähigkeit des menschlichen Immunsystems. Ein guter Abwehrmechanismus schütze vor Covid-19, heißt es. Dass dem beim Coronavirus nicht so ist, hat zuletzt der Wiener Infektiologe Christoph Wenisch klargestellt. Vor allem bei schweren Verläufen stelle sich ein gutes Immunsystem sogar als schlecht für den Krankheitsverlauf heraus, betonte der Mediziner im "Ö1-Mittagsjournal". Dabei arbeite die Körperabwehr unter Hochdruck, schaffe es aber nicht, das Virus zu besiegen, heißt es auch in einer Studie eines Forschungsteams der Berliner Charité. Ein bestimmter Botenstoff würde sogar die Vermehrung des Virus begünstigen.

Die meisten durch Sars-CoV-2 infizierten Menschen können ihre Erkrankung zu Hause auskurieren. Ein Teil hat gar keine Symptome, doch etwa zehn Prozent der Betroffenen müssen im Krankenhaus behandelt werden. "Ein besonders gutes Immunsystem ist anscheinend schlecht für den Krankheitsverlauf, weil es nicht so optimal reagiert", so Wenisch.

Die deutschen Forscher scheinen den Mechanismus dahinter nachvollziehen zu können. Eigentlich basiert das menschliche Verteidigungsprogramm auf dem Zusammenspiel verschiedener Immunzellen. Es ist für gewöhnlich so effektiv, dass es Eindringlinge abwehren kann.

Verstärkte Infektion

Dabei spielen die T-Zellen eine wichtige Rolle. Stoßen sie im Körper auf Viren, zerstören sie die befallenen Zellen. Zudem setzen sie den Botenstoff Interferon-Gamma frei. Dieser bekämpft einerseits Infektionskeime und ruft andererseits weitere Immunzellen auf den Plan, wie die Forscher der Charité im Fachblatt "Molecular Medicine" berichteten.

Der Hepatologe Julian Heuberger hat gezeigt, wie Sars-CoV-2 diesen Botenstoff-vermittelten Schutzmechanismus in sein Gegenteil umwandeln kann. Denn neben den Immunzellen reagieren auch die Schleimhautzellen des Körpers auf Interferon-Gamma, indem sie mehr ACE2-Rezeptoren ausbilden. Das Coronavirus benötigt ACE2-Rezeptoren als Einstiegspforte in die Zellen. Infizierte Zellen wiederum bilden mehr ACE2. Sowohl die Interferon-Gamma-Antwort also auch das Virus selbst bewirken demnach eine verstärkte Sars-CoV-2-Infektion.

Die Erreger seien in der Lage, immunologische Prozesse zu triggern, die wiederum zu einer Über-Entzündung führen, so Wenisch. "Also ein besonders gut reagierendes Immunsystem tut oft zu viel." Ein gutes Abwehrsystem sei selbstverständlich gut, reiche aber im Fall von Covid-19 nicht aus, um die Erkrankung zu verhindern.

Deshalb würden in einer schweren Krankheitsphase auch immununterdrückende Medikamente zur Behandlung gegeben. So werden den Patienten etwa Kortison-Präparate, Januskinase-Hemmer oder Interleukin-6-Antagonisten verabreicht. Vieles für Infektionskrankheiten "merkwürdige Therapien, die sonst rheumatologische Patienten erhalten", so Wenisch.

Auch bei Risikogruppen spiele das Immunsystem eine besondere Rolle. So fand ein weiteres Forscherteam der Charité Berlin heraus, dass die T-Helferzellen bei Menschen der Risikogruppen zwar häufig gebildet werden, aber nicht richtig funktionieren. Diese Defizite des Immunsystems hätten nichts damit zu tun, ob sich diese Menschen grundsätzlich gesund ernähren, genug Frischluft tanken oder Vitamine zu sich nehmen.

Neue therapeutische Ansätze

Auch ein interdisziplinäres Forscherteam der MedUni Wien und des AKH Wien berichtet von einer einzigartigen Reaktion des Immunsystems im Zusammenhang mit Covid-19. Eine Studie hat nun gezeigt, dass sich im Blut der Patienten ein spezifisches Muster an immunologischen Markern findet, das sich von anderen viralen Erkrankungen der Atemwege unterscheidet.

Eine Sars-CoV-2-Infektion kann ausgehend von einer Überreaktion des Immunsystems zu einem schweren klinischen Krankheitsverlauf bis hin zu einem Multiorganversagen führen, heißt es in einer Aussendung. "Dies konnte zwar bereits in Studien gezeigt werden, das Problem war jedoch, dass die bisherigen Daten erst im späteren Verlauf von schwer erkrankten Patienten auf Intensivstationen gewonnen werden konnten. Daten aus der Frühphase sowie geeignete Kontrollgruppen fehlten häufig. Daher war bis jetzt weitgehend unklar, ob das Immunsystem in der Frühphase der Infektion unterschiedlich reagiert als auf die bereits uns bekannten saisonalen Erreger viraler Atemwegserkrankungen", erklärt Klaus Schmetterer von der MedUni Wien.

Die Erkenntnisse, die im Fachblatt "Frontiers in Cellular and Infection Microbiology" publiziert wurden, könnten Anhaltspunkte für therapeutische Ansätze liefern, aber auch als wichtige Vergleichsparameter für weitere Studien dienen, etwa zu "Long Covid".

Ein gutes Immunsystem sei besser als ein geschwächtes. Doch "selbst, wenn alle Menschen ein funktionierendes Immunsystem hätten, wäre diese Pandemie nicht vorbei", erklärte jüngst Carsten Watzl, Immunologe an der TU Dortmunds. Studien würden darauf hindeuten, dass vor allem die Menge an Aerosolen, der ein Mensch ausgesetzt ist, für die Schwere der Infektion entscheidender ist.(gral/apa)