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Die Angst im Nacken

Von Alexandra Grass

Wissen

Die Corona-Pandemie hat auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen massiven negativen Einfluss genommen.


"In der Pandemie haben wir uns hilflos und alleine gefühlt, weil wir kaum Bezug zu anderen Menschen hatten. Heute habe ich Probleme mit dem Einschlafen und Angst, wieder alleine zu sein. Vielen Freunden geht es ähnlich. Sie haben in dieser Zeit eine Trennungsangst entwickelt. Man hat gesehen, welche Menschen geblieben sind und welche nicht", schildert die 16-jährige Caro ihre Erfahrung, die aus den Lockdowns und Quarantäneregelungen der vergangenen eineinhalb Jahre resultiert. Das Mädchen ist auf therapeutische Hilfe angewiesen, um ihre Ängste, Schlafstörungen und auch Panikattacken in den Griff zu bekommen. Caro ist nicht die einzige Jugendliche, die mit diesen Zeichen der Zeit umzugehen lernen muss.

Die Corona-Pandemie hat den Heranwachsenden einiges abverlangt. Mehrere Studien zeigen mittlerweile den direkten Zusammenhang zwischen dieser Art von psychischen Störungen und der Pandemiezeit - und deren drastische Zunahme. Waren Therapieplätze schon zuvor rar, so sind es heute angesichts des großen Bedarfs umso mehr. Auch der Einsatz von Psychopharmaka hat seither massiv zugenommen.

Bedrückend, eingesperrt zu sein

"Viele Jugendliche greifen selbstständig zu Tabletten als Beruhigungsmittel. Sie finden keinen anderen Weg, zur Ruhe zu kommen", beschreibt Caro weiter. Ihre Freundin Nicole sieht sich in einer ähnlichen Lage. "Ich merke, dass es mir schlechter geht. Die Ursache weiß ich nicht genau, aber es hat mit der Coronazeit begonnen. Sitzt man alleine daheim, kann man sich von Problemen nicht so leicht ablenken. Man sitzt mitten drinnen und saugt alles auf wie ein Schwamm. Es war bedrückend, eingesperrt zu sein. Jetzt müssen wir uns erst wieder daran gewöhnen, rauszugehen und mit Menschen zu reden."

"Es war zu beobachten, dass sich das Bild von Quarantäne zu Quarantäne verschlechtert hat", erklärt die Psychiaterin Elisabeth Lazcano im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Jugendliche brauchen die Peer-Group, um in ihrer Identitätsentwicklung voranzukommen. Vor allem in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen, einer besonders wichtigen Phase, konnten wichtige Autonomieschritte, etwa das Weg vom Elternhaus, nicht gelingen. Besonders den Mädchen fehlte das Gespräch mit Gleichaltrigen.

In dieser Zeit hat der Konsum von Social-Media-Plattformen das Leben noch mehr bestimmt als zuvor. Instagram, Facebook und Co waren allgegenwärtig. Doch diese Art von einseitiger Kommunikation hat ihre Tücken. Sie beeinflussen die Entwicklung der Selbstidentität über Äußerlichkeiten. Der Druck, der den Jugendlichen durch werbeaffine Plattformen auferlegt wird, hat auch zu mehr Essstörungen geführt.

Die vulnerabelste Gruppe

Diese Entwicklung bestätigt auch Nicole. "Social Media gibt vor, wie man auszusehen hat. Man will bei der Jugend von heute gut ankommen, man will irgendwo hingehören und cool sein." Der Druck, wie man aussieht, sei größer geworden.

"Die Pandemie-Maßnahmen haben alles, was schon im Hintergrund geschlummert hat, wie ein Brennglas verschärft", betont die Expertin. Hoher Medienkonsum, das Hören angstmachender Nachrichten und verzerrte Darstellungen sind toxisch und fördern Angsterkrankungen.

Gerade die 15- bis 24-Jährige wurden von Experten schon zu Beginn der Pandemie als die vulnerabelste Gruppe definiert. In dieser Zeit ist der physische Bezug zu Freunden besonders wichtig. Das Herantasten an die erste Liebe, den ersten Kuss, den ersten sexuellen Kontakt. Diese wichtigen Entwicklungsschritte, die zum Aufbau der eigenen Identität nötig sind, haben zu diesen maßgeblichen Altersabschnitten nicht stattfinden können. "Das fördert Verunsicherung", betont Lazcano. In dieser Gruppe kreisen die Gedanken für gewöhnlich auch um die Zukunftsplanung und existenzielle Fragen. Welcher Ausbildungsschritt folgt dem jetzigen? Planungssicherheit gab und gibt es nach wie vor keine. Wichtige Erfahrungen wie Praktikum, Auslandsaufenthalt oder Sprachreise konnten nicht stattfinden. Und auch das Hin zur Autonomie blieb diesen jungen Erwachsenen verwehrt. "Das ist alles zu kurz gekommen."

Ein Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef zeigt, dass sich jeder fünfte Mensch im Alter zwischen 15 und 24 Jahren "häufig depressiv fühlt oder wenig Interesse daran hat, Dinge zu tun". Diese Zahlen hat eine Umfrage in 21 Ländern ergeben. Auch die Organisation stellt dabei einen direkten Bezug zu den Auswirkungen der Pandemie her.

"Während der ersten Welle der Schulschließungen war der Rückgang der sozialen Kontakte unter Gleichaltrigen bei Kindern und Jugendlichen größer als bei anderen Altersgruppen", heißt es in einer im Fachblatt "Jama Pediatrics" erschienenen Meta-Analyse von insgesamt 43 Studien. Sie ergab, dass je nach Studie 18 bis 60 Prozent der Heranwachsenden über dem Risikowert für psychische Belastungen lagen - darunter vor allem Ängste und depressive Symptome. Jene Werte waren erkennbar höher als vor der Pandemie.

Psyche reagiert zeitverzögert

"Diese Zunahme der psychischen Belastung ist umso besorgniserregender, als es auch Hinweise darauf gibt, dass die Zahl der Fälle, in denen eine medizinische Versorgung in Anspruch genommen wurde, während der ersten Welle international deutlich zurückgegangen ist", heißt es in der Analyse. Das deute darauf hin, dass der ungedeckte Bedarf an psychosozialer Versorgung bei ohnehin gefährdeten Kindern und Jugendlichen gestiegen sei.

"Das Schlimmste steht uns noch bevor", warnte zuletzt der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie. Denn der Höhepunkt von psychosozialen Belastungen komme erst nach dem Abklingen der ursächlichen Krise - denn die Psyche reagiert immer zeitverzögert.

Doch wie soll es weiter gehen? Mit welchen Schritten lässt sich das Rad zwar nicht zurückdrehen, aber die Entwicklung wieder in die richtige Richtung lenken? "Von der Schule sollte es mehr Verständnis geben", wünschen sich Caro und Nicole. "Viele Lehrer meinen, zu ihrer Zeit hätte es auch Probleme gegeben, die sie überlebt haben." Die beiden Mädchen sind über derartige Aussagen verärgert. "Wir Jugendlichen haben heute andere Probleme, weil wir anders denken als die Generationen vor uns", sind sie überzeugt.

Kommunikation wieder lernen

"Vor 20 Jahren gab es noch nicht gefühlt 300 Geschlechter", sprechen sie etwa die derzeit ihrer Ansicht nach übertriebene Verwendung von LBGTQIA-Gender-Pronouns an. Und, obwohl sie sie selbst viel nützen, sehen sie die Social Media-Kanäle als Teufelszeug. In der Pandemiezeit waren sie in gewisser Art und Weise allerdings auch Heil bringend. Vor allem über Videochats konnten die Jugendlichen, zumindest virtuell, die Kommunikation mit Freunden aufrecht erhalten. Der breite Austausch mit der Außenwelt war allerdings abgeschnitten. Und damit hat die heutige Jugend ein weiteres Thema, das neu ist. "Wir müssen uns eben wieder daran gewöhnen, rauszugehen und mit Leuten zu reden", so Nicole.

"In die Normalität zurückzukehren, stelle ein großes Problem dar", betont Lazcano. Vor allem das Vermeidungsverhalten gegenüber der Schule ist gestiegen. Doch sei es wichtig, genau dort zu handeln, wo sich die Jugendlichen die meiste Zeit aufhalten - nämlich in der Schule. Die Expertin rät zu regelmäßigen Selbsthilfegruppen in den Klassen. In Gesprächen würden die Jugendlichen erkennen, dass "sie alle im selben Boot sitzen". Bilder wie "es ist eh alles gut" seien hier fehl am Platz. "Es braucht mehr Offenheit und Gemeinschaft, dass die Kinder aus ihrer Vereinsamung und Not wieder herausfinden."