Es hat etwas von ständig umziehen müssen. Oder in unregelmäßigen Abständen Tag-Nacht-Schichten abzuwechseln. Oder zu tanzen mit jemandem, der einem auf die Füße tritt und alle paar Takte den Rhythmus ändert. Die Rede ist vom erratisch gewordenen Pandemie-Alltag.

Zwei Jahre sind seit den ersten Berichten über eine mysteriöse Lungenkrankheit in der chinesischen Metropole Wuhan vergangen, und bis auf Weiteres befindet sich die Welt im Krisenmodus. Österreich und viele andere Länder stecken derzeit sogar in der bisher schlimmsten Corona-Welle, gemessen an der Zahl der Infizierten. Krisenmanagement steht ungebrochen auf der Tagesordnung, denn die Rahmenbedingungen, die das Virus auferlegt, bleiben unberechenbar. Lockdown und Öffnung, Ruhe und Hektik, Sorge und Entspannung wechseln sich ab und schmeißen Pläne gleichermaßen um. Wir bleiben endlos flexibel. Oder haben Sie eine Ahnung, was Sie zu Weihnachten wirklich machen werden? Aus kurzfristig wird mittelfristig, und langfristig ist eine Zeit in der Ferne, "wenn alles wieder normal sein wird". Das kann, muss aber nicht eintreten.

In dieser permanenten Unsicherheit ist eines sicher: Nicht nur das Virus macht krankt, auch das Leben in und mit der Covid-Krise kann uns psychisch wie physisch schädigen. "Unberechenbarkeit macht Krisen aus. Die Schwierigkeit tritt ein, wenn sie nicht, ihrer Definition entsprechend, akut sind, sondern chronisch werden", sagt Barbara Sperner-Unterweger, Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck: "Derzeit werden Gewohnheiten, die Gesellschaften den Sicherheitsrahmen geben, um funktionelle Abläufe etablieren zu können, dauernd überholt."

Abläufe dauernd überholt

Wenn die Lage brenzlig wird, wirft das Gehirn ein jahrtausendealtes Gefahrenabwehrsystem an, in dessen Zentrum zwei kleine Gebilde hinter den Schläfenlappen stehen: die Mandelkerne, auch Amygdala genannt. Wenn die Amygdala und das dazu gehörige System, bestehend aus Stresshormonachse und Sympatikus, übernehmen, werden wir auf die Bewältigung unmittelbarer Gefahren getrimmt und schalten auf Kampf, Flucht oder Totenstarre. "Für den chronischen Krisenmodus sind wir Menschen schlecht gerüstet", sagt Sperner-Unterweger, und berichtet: "In der Klinik sehen wir derzeit vermehrt Angst- und Schlafstörungen und depressive Verstimmungen, die sich in Schmerzen, Übelkeit, Verdauungsproblemen und funktionellen Beschwerden äußern können, jedoch auf keine eindeutige körperliche Ursache, sondern auf chronischen Stress zurückzuführen sind." Auf die schier riesige Zahl der Fälle hat sie sogar mit einer kostenlosen App - Help@Covid genannt - reagiert, die Erste Hilfe leisten kann. "Natürlich gibt es Menschen, die auch in schwierigen Situationen Ressourcen aktivieren. Im Allgemeinen aber brauchen wir Sicherheit, um Strategien zu entwickeln", sagt sie.

"Die Corona-Pandemie, die für die meisten eine Bedrohung von Gesundheit und sogar Leben bedeutet, aber auch existenzielle Konsequenzen haben kann, ist eindeutig ein starker Stressfaktor", bestätigt Urs Nater, Vorstand des Instituts für Klinische und Gesundheitspsychologie an der Universität Wien: "Die andauernde Pandemie ist für viele Menschen eine andauernde Stresssituation, die uns immer wieder geistig und körperlich beansprucht und am Ende für negative psychische und physische Gesundheitskonsequenzen verantwortlich ist."

Gewohnheitstier Mensch

An sich ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Gleichzeitig möchte aber kaum jemand, dass das Leben durch ewig gleiche Routinen in lähmender Langeweile erstarrt. Daher suchen wir neue Herausforderungen, lieben Abwechslung und Inspiration, spannende Erfahrungen und Adrenalin. Doch ohne Gewohnheiten ließe sich unser Alltag nicht bewältigen. Wir würden unsicher Fahrrad oder Auto fahren, den Weg nach Hause nicht automatisch finden, in die verkehrte U-Bahn steigen - und ununterbrochen das Gehirn überlasten.

Da wir aber seit dem Führerschein x-mal hinterm Steuer gesessen sind, können wir während des Fahrens auf die Verkehrslage achten. Weil unser Denkorgan sich auf die Routine verlassen kann, treffen wir viele Entscheidungen aus Gewohnheit, und das spart kognitive Energie. Bei automatisierten Handlungen ist der präfrontale Kortex, der für die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten und emotionale Bewertungen zuständig ist, weniger stark beansprucht, als wenn etwas Neues passiert. Durch die Begleitumstände der Pandemie müssen wir uns ständig neue Routinen aneignen. Zoom-Meeting-Etiquette. Online-Kurse machen und parallel dazu arbeiten. Unterrichten der eigenen Kinder zu Hause. Aber nur vorübergehend, nichts ist fix. Kaum ist eine Urlaubsreise im Internet zusammengestellt und gebucht, ist sie schon abzublasen.

"Flöten geht die Inspiration"

Unter solchen Umständen neue Strategien zu entwickeln, erfordert einiges an Kreativität. "Mit Vorlaufzeiten von einem halben Jahr für die Bestellungen in der Modebranche müssen wir Entwicklungen vorwegnehmen. Derzeit ist das aber wie ein Blick in die Glaskugel", beschreibt Sabine Groiss, Geschäftsführerin der Boutique "Elisabethvienna" in Wien, ihren Arbeitsalltag Neu. "Im Grunde mache ich seit zwei Jahren Troubleshooting. Ich habe an allen Stellschrauben gedreht, Kosten gesenkt und den Einkauf umgestellt. Es geht sich aus, ist aber wie ständig mit der Kantare reiten, damit das Pferd nicht durchgeht. Flöten geht dabei die Inspiration."

In einer im Fachjournal "The Lancet" publizierten Überblicksstudie hat ein Forschungsteam ausgewertet, wie das erste Lockdown-Jahr 2020 aufgenommen wurde. Weltweit ist demnach in dieser Zeit die Zahl der Angststörungen und Depressionen um 25 Prozent gestiegen.

"Diese enorme Wirkung des Lockdowns auf die psychische Gesundheit kann dadurch erklärt werden, dass alle vier neurobiologischen Grundmotive betroffen sind", sagt der Berliner Emotionscoach Dirk W. Eilert. Er bezieht sich dabei auf die vom Schweizer Psychotherapeuten und Psychotherapieforscher Klaus Grawe (1943-2005) definierten menschlichen Grundbedürfnisse nach Selbstwirksamkeit, Ordnung und Struktur, Verbindung und Geborgenheit und Inspiration und Leichtigkeit, also nach Spaß im Leben.

Frage der Selbstwirksamkeit

"Jeder Lockdown schränkt die Handlungsfähigkeit ein. Außerdem wollen wir Dinge einschätzen, verstehen und planen können. Wenn das nicht möglich ist, steigen die Stresshormonwerte", sagt Eilert, der ein Buch zur Lösung emotionaler Stressoren veröffentlicht hat: "Legen sich dieserart unerfüllte Bedürfnisse über grundlegende Sorgen zu Einkommen, Gesundheit und fehlenden Perspektiven, ist das psychische Wohlbefinden massiv beeinträchtigt."

Was aber ist zu tun in einer Situation, die nicht zu ändern ist? Wir müssen wohl lernen, im Moment zu leben, ob zwar aus einer Art von Notlage heraus. Immerhin kann der Fokus auf das, was jetzt los ist, zumindest einen subjektiven Eindruck von Selbstbestimmtheit vermitteln. All jene, die niemanden an Covid-19 verloren haben, nicht völlig allein stehen und weiterhin ein Einkommen haben, müssen somit nicht grantig sein, sondern können sich dafür entscheiden, sich zu freuen, wie viel eigentlich immer noch läuft.

"Es gibt eine starke empirische Befundlage, die zeigt, dass das Erlernen von Achtsamkeit vor Stress schützt", sagt Urs Nater. "Es handelt sich hierbei um das Fokussieren auf den Moment und die wertfreie Betrachtung dessen, was im Moment geschieht, statt zu bewertend oder die Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft schweifen zu lassen. Achtsamkeit kann erlernt werden und ist ein Kernbestandteil von Stressinterventionen." Möge die Übung gelingen!