Zum Hauptinhalt springen

Schon Kinder verlieren graue Zellen

Von Eva Stanzl

Wissen

Hirnforschung: Bereits ab dem sechsten Lebensjahr baut die graue Substanz ab.


Angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse mag es überraschen, dass das Gehirn ab einem gewissen Lebensalter noch ziemlich einwandfrei funktioniert. Die britische Universität Cambridge hat herausgefunden, dass nämlich die graue Masse bereits in der ersten Volksschulstufe ihr größtes Volumen erreicht. Danach schrumpft sie unweigerlich, egal, ob man gesund lebt, um sie zu schützen, oder Neues dazu lernt, um sie zu trainieren.

Für ihre im Fachmagazin "Nature" veröffentlichten Ergebnisse und eine Datenbank, die im Open Access-Onlineportal "brainchart.io" zu finden ist, haben die Forschenden 125.000 Gehirnscans, die mit Hilfe von Magnetresonanztomographie gemacht wurden, von Personen aller Altersstufen ausgewertet.

Der Fachbegriff Hirnkartierung steht für die Erforschung der strukturellen und funktionellen Organisation unseres Denkorgans. Die Wissenschafter haben zahlreiche "Karten", im Englischen Charts genannt, der Gehirne von Menschen jeden Alters vom Baby im Mutterleib bis zum 100-jährigen Greis erstellt und anhand dessen entdeckt, dass das Gehirn schon früh sehr rasch wächst und mit den Lebensjahren langsam schrumpft.

Zum Hintergrund: Neurowissenschafter gehen von zwei grundlegenden Gewebetypen im Gehirn aus. Die graue Substanz besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die eine dünne Schicht auf der Hirnoberfläche bilden. Die Vorstellung, dass man zum Nachdenken seine "grauen Zellen anstrengen" müsse, bezieht sich darauf, dass diese maßgeblich an der Verarbeitung von Informationen beteiligt sind. Die "graue" Großhirnrinde ist für alle höheren Leistungen des Gehirns zuständig, wie etwa die Erinnerung an Vergangenes oder die Planung der Zukunft. Die grauen neuronalen Zellen sind durch millionenfache Verbindungen, die gebündelt tiefer im Gehirn verlaufen, zusammengeschaltet. Diese Leitungsbahnen werden weiße Substanz genannt.

Laut dem Forschungsteam existierten bisher nur Hypothesen, wann genau die Gewebetypen ihre Spitzenvolumina in der Entwicklung erreichen und ab welchem Alter sie tatsächlich beginnen, sich zurückzuziehen. "Wir haben die Daten ganzer Lebensspannen zusammengefügt, was uns erlaubte, Wachstum und Schrumpfung zu messen", wird Studienautior Richard Bethlehem vom Institut of Psychiatrie der Universität Cambridge in einer Aussendung zur Studie zitiert.

Die Resultate in Zahlen: Bei Babys schnellt das Volumen der grauen Substanz ab Mitte der Schwangerschaft in die Höhe. Mit sechs Jahren ist sie insgesamt am größten. Nur jene Neuronen, die für Verhalten und Körperfunktionen zuständig sind, erreichen ihren Höhepunkt erst mit 14 Jahren. Nach diesen beiden recht frühen Lebensphasen wird die graue Substanz allmählich weniger.

Die Leitungsbahnen in der weißen Substanz werden von Mitte der Schwangerschaft bis zum 29. Lebensjahr immer zahlreicher. Danach ziehen sie sich langsam wieder zurück. Der Prozess beschleunigt sich ab dem Alter von 50.

Diagnose-Standard für Gehirnfunktionen

Die der Studie zugrunde liegenenden Daten sind laut den Forschenden mehr als 100 verschiedenen Studien aus allen Kontinenten entnommen. Die Charts könnten, wie Bethlehem und Kollegen meinen, in einen noch zu entwickelnden diagnistischen Standard für Gehirnfunktionen einfließen, der ähnlich wie Kenntnisse über das durchschnittliche Körperwachstum von Kindern zum Einsatz kommen könnte, um deren Entwicklung zu verstehen. Auch für Befunde zu psychischen oder Demenzerkrankungen könnten sie hilfreich sein.

Für die Studie gaben die Forscher ihren Datensets 165 verschiedene diagnostische Etikettierungen, um diese etwa von Alzheimer unterscheiden zu können. Die Demenzerkrankung geht mit einem besonders rapiden Verlust von Hirngewebe einher.

Kaum ungewöhnlich seien hingegen unterschiedliche Gehirngrößen. Ähnlich wie manche Menschen hochgewachsener sind als andere, kann nämlich auch die Größe des Denkorgans variieren: Fällt es etwas kleiner aus, ist das laut den Forschern nicht etwa Anlass zur Sorge, sondern ähnlich normal, wie wenn wir gelegentlich etwas vergessen.