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Spermien unter Erfolgsdruck

Von Alexandra Grass

Wissen

Männliche Samen verlieren an Quantität und Qualität. Ursachen dafür sind Umwelteinflüsse, Erkrankungen und Lifestyle.


Sie haben einen Marathon zu absolvieren, doch nicht jedes von ihnen ist ein ausdauernder Läufer. Die Rede ist von den Spermien, die, bis sie an ihrem Reiseziel - der Eizelle - ankommen, eine weite und hindernisreiche Wegstrecke zurücklegen müssen. Immer weniger von ihnen begeben sich auf diese zwar vielversprechende, aber gefährliche Route, denn ihre Anzahl wird schon seit Jahren geringer. Das ist einer der Gründe, warum der Wunsch nach einem eigenen Kind oft nicht in Erfüllung geht. In Österreich bleiben etwa zehn bis 15 Prozent aller Paare ungewollt kinderlos. Die Ursachen sind vielfältig - und nicht immer bei der Frau zu finden. Die Hintergründe dazu erläutert der Gynäkologe, Experte für In-vitro-Fertilisation und Leiter am TFP Kinderwunschzentrum Klagenfurt, Gernot Kommetter, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Gut gebaut und beweglich

"Sterilitätsprobleme treten isoliert gleich häufig bei Frauen und Männern auf, aber sehr häufig tragen auch beide Partner einen Teil zur ungewollten Kinderlosigkeit bei", weiß der Mediziner. Hartnäckig hält sich allerdings das Vorurteil, dass die Erfüllung eines Kinderwunsches vor allem in die weibliche Verantwortung fällt. Häufig wird daher zunächst nur bei der Frau nach den Ursachen gesucht.

Erst viel später - wenn das langersehnte Baby auch noch nach ein bis zwei Jahren nicht im Anmarsch ist - werden zumeist die Spermien des Mannes genauer unter die Lupe genommen.

Für ihren Weg zur Eizelle müssen sie fit sein - gut gebaut, beweglich und in ihrer Anzahl reichlich. Die WHO hat dafür auch eine Mindestmengenangabe parat. So sollten sich bei einem Mann, der in der Lage ist, ein Kind zu zeugen, mindestens 39 Millionen Spermien im Ejakulat befinden. Studien zeigen Werte von bis zu 200 Millionen kleiner Marathonanwärter. Kommetter spricht von mehr als 16 Millionen Samenzellen pro Milliliter Ejakulat als unterem Normwert - etwa fünf Milliliter bringt ein gesunder Mann hervor.

Rund 20 Zentimeter muss ein Spermium vom Scheideneingang bis zur Gebärmutter überwinden. Viele von ihnen sterben schon in der Vagina ab. Dort ist es sauer und die Immunzellen der Frau töten nicht nur Bakterien und Pilze, sondern unabsichtlich auch Spermien. Während diese wacker um ihr Überleben kämpfen, kommt ihnen die Eizelle Stück für Stück entgegen. "Wenn alles perfekt ist und die Frau unter 35 Jahren, hat man pro Monat eine Schwangerschaftschance von etwa 20 Prozent", erklärt der IVF-Experte.

Die Samenzellen, die das Erbgut des Mannes enthalten, entwickeln sich in feinsten Samenkanälen der Hoden. Von dort gelangen sie in die Nebenhoden, wo sie endgültig ausreifen. Der gesamte Reifungszyklus dauert etwa drei Monate. Dafür benötigen die Samenzellen eine konstante Körpertemperatur von rund 35 Grad Celsius.

Grippe und Covid-19

Zunehmend geraten die Spermien - sie zählen mit etwa 0,06 Millimetern Größe zu den kleinsten Lebewesen im menschlichen Körper - in den Fokus der Wissenschaft. Denn sowohl ihre Qualität als auch ihre Quantität nehmen weltweit ab. Das hat mehrere Gründe. Zum einen können es persönliche Gegebenheiten sein, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen scheinen einen großen Einfluss zu haben.

Für die Beurteilung der Samenqualität werden drei Parameter herangezogen - die Dichte (Anzahl), die Beweglichkeit und das Aussehen. Diese können zum Beispiel durch Grunderkrankungen aber auch genetisch bedingt negativ beeinflusst sein. Reduziert ist die Samenqualität auch bei Tumorpatienten, nach wie etwa für Fußball typischen Sportverletzung, oder bei einem Hodenhochstand, so Kommetter. Aber auch während oder nach entzündlichen Prozessen. Ob eine Grippe oder Covid-19 - bei vor allem fieberhaften Erkrankungen sind die Samenzellen alleine schon aufgrund der Temperaturschwankungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Viren wandern sowohl in die Eizellen als auch in die Samenzellen. "Der Hoden ist grundsätzlich ein gutes Reservoir für Keime", betont der Mediziner. Blickt man auf den Reifungszyklus der Spermien, ist klar zu erkennen, dass es dann mindestens zwei bis drei Monate dauern kann, bis Mann wieder zeugungsfähig ist.

Doch der "Trend" zur schlechteren Samenqualität hält schon länger an. Nicht zuletzt hat auch der Lifestyle damit zu tun. Nikotin, Alkohol, Übergewicht, ungesunde Ernährung, psychischer Stress, externe Umweltbelastungen - von Umweltgiften bis hin zu elektromagnetischer Strahlung. Die Liste ist kaum enden wollend. "All das kann sich negativ auf die Fruchtbarkeit des Mannes auswirken. Leider ist der Zusammenhang von Lebensweise und Fertilität den Patienten meist unbekannt oder wird verdrängt."

Treten bei einem Mann Auffälligkeiten auf, muss abgeklärt werden. Da es sich allerdings bei der männlichen Infertilität um ein Tabuthema handelt, das noch dazu mit so manchem Vorurteil behaftet ist, ist Mann nicht immer bereit, das Prozedere einer Untersuchung überstürzt in Kauf zu nehmen. Infertilität gilt bis heute als Makel. "Das verzögert die Diagnostik und die Therapie." Erektile Dysfunktion spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn üblicherweise bleibt eine reduzierte Samenqualität bei fehlendem Kinderwunsch unbemerkt.

Der Spezialist rät dazu, möglichst bald - nämlich bei mehr als einem Jahr unerfülltem Kinderwunsch - beide Partner untersuchen zu lassen. In einem Drittel der Fälle liege die Ursache bei Mann und Frau. "Wird dann nur ein Partner untersucht, wird man medizinisch mitunter auf eine falsche Fährte gelockt. Unnötiger Zeitverlust und Aufwand und im schlimmsten Fall eine Verringerung der Behandlungschancen können die Folge sein", betont Kommetter.

20-Prozent-Chance

Bei der Diagnostik soll das Augenmerk nicht nur auf das Spermiogramm, also die Untersuchung der Spermienqualität, gelegt werden. In die ganzheitliche Diagnostik sind auch das Sexualverhalten des Paares, mögliche anatomische Auffälligkeiten, vergangene Infektionen oder andere Erkrankungen zu berücksichtigen. "Je genauer man weiß, woran es liegt, desto besser sind die Erfolgsaussichten."

Der erste Schritt in der Reproduktionsmedizin ist zumeist die Insemination. "Dafür muss der Samen ziemlich gut sein." Die Chance auf eine Schwangerschaft ist ähnlich jener in der Natur. Sie liegt ebenso bei in etwa 20 Prozent. In vielen Fällen kommt die intracytoplasmatische Spermieninjektion, kurz ISCI, zum Einsatz Dabei wird im IVF-Labor jeweils ein Spermium direkt in jede entnommene Eizelle injiziert und der Embryo fünf Tage später in die Gebärmutter eingesetzt. Diese Technik hat den Vorteil, dass eine Befruchtung selbst bei sehr stark reduzierter Samenqualität mit hoher Erfolgsquote erfolgen kann.

Lebenswandel im Auge

"In den allermeisten Fällen können verwendbare Samenzellen gefunden werden", betont Kommetter. Das geschieht bei der Samenaufbereitung. "In der Zentrifuge werden all jene Spermien weggeschleudert, die sich nicht bewegen", skizziert der Mediziner. Schließlich schwimmt oben ein Pellet von Samenzellen, die unter dem Mikroskop aussortiert werden. Das ist die Arbeit einer eigenen Berufsgruppe - der Embryologen. Von ihnen hängt auch die Erfolgsrate ab.

In Richtung Jugendliche rät Gernot Kommetter zu einem bewussten Lebenswandel. Auch gelte es, die jungen Männer für die eigene Gesundheit zu sensibilisieren. Auch an Paare richtet der Experte einen Appell - nämlich die Infertilität als Paarthema zu begreifen.

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