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ADHS verhält sich zu Schlaf wie Henne zu Ei

Von Sandra Fleck

Wissen
Eine Schlafanalyse von Kindern mit ADHS könnte die Krankheit neu beleuchten.
© stock.adobe.com / soupstock

Ob Schlaf jemals Bestandteil der Diagnosekriterien für ADHS wird, bleibt fraglich.


Philipp scherzt, zappelt und schaukelt mit dem Stuhl, während seine Eltern mahnend und doch hilflos am Tisch sitzen. Kinder und Jugendliche mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) zeigen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität oder Zurückgezogenheit. Im deutschsprachigen Raum beeinträchtigt das etwa fünf bis sieben Prozent der Kinder. Die Intensität der Erkrankung ist facettenreich. Alle Symptome, von abgelenkt bis hyperfokussiert, lassen sich untertags von Bezugspersonen beobachten. Was aber, wenn die Beeinträchtigung bis in die Nacht hineinreicht? Obwohl gestörter Schlaf ein markantes Merkmal zu sein scheint, ist er kein Diagnose-Kriterium für ADHS in deutschsprachigen Leitlinien. Dabei könnte allein die Frage nach Schlaf oder eine vereinfachte Schlafanalyse die Krankheit von Zappel-Philipp neu beleuchten.

Veraltete Leitlinien

Die deutsche Leitlinie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stammt aus dem Jahr 2017. Jene der schweizerischen Fachgesellschaft aus 2016. Sie stützt sich auf das amerikanische Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) mit Stand 2013. Gleichalt ist die österreichische Leitlinie, die ihren Nachbarländern in Nichts nachsteht. Gestörter Schlaf ist lediglich Teil des Nebenwirkungsmanagements bei der Verabreichung von Medikamenten gegen ADHS-Symptome.

Bereits 2009 hielt eine Veröffentlichung (Mark A. Stein) fest, dass nahezu 20 Prozent dieser Kinder mindestens einmal pro Woche schwere Schlafstörungen zeigen. Die Zahl der Schlafprobleme steigt unter Einnahme von Stimulanzien auf nahezu 30 Prozent. Betroffene schlafen schwer durch oder ein und empfinden ein unangenehmes Spannungsgefühl in den Beinen. Das Restless-Legs-Syndrom wäre mit einem Eisenpräparat behandelbar. "Die Werte der Schlafstörungen gehen auf bis zu 50 Prozent hoch. Das unterscheidet sich je nach Studie und hängt davon ab, wie man Schlafstörungen abfragt, wen man fragt und in welchem Kontext man fragt", sagt Osman Ipsiroglu vom BCCH Forschungsinstitut Vancouver in Canada. Als pädiatrischer Schlafmediziner hat er mit seiner Arbeitsgruppe Anfang des Jahres eine Übersichtsarbeit geschaffen, die den Diagnoseweg von ADHS hinsichtlich Schlaf analysiert und die Instrumente zur Messung schlafspezifischer Ereignisse hinterfragt. "Ziel ist es, die medizinischen Fachgruppen zu animieren, Schlafstörungen als Differenzialdiagnostik in die ADHS-Leitlinien aufzunehmen, insbesondere das Syndrom der unruhigen Beine auszuschließen und entsprechende Untersuchungen zu standardisieren", so der Forscher.

Zappelphilipp reloaded

Für Ipsiroglu ist die derzeitige Behandlungssituation des 50 Jahre alten Krankheitsbilds nicht mehr zeitgemäß. Denn ein gestörter Schlaf und infolgedessen ein gestörtes Tagesverhalten scheinen ADHS zu verschlimmern als auch von ADHS verschlimmert zu werden. "Schlafstörungen waren in der DSM-3 noch ein wesentlicher Teil der Diagnosekriterien. In späteren Ausgaben wurden sie allerdings wieder gestrichen. Es hieß, dass es an objektiven Beweisen für eine Verbindung von Schlafproblemen und ADHS-Symptomen mangele", so Ipsiroglu. Was daran liegen könnte, dass untertags von den Eltern mehr wahrgenommen wird als in der Nacht.

"Schlafstörung ist ein privates Schicksal. Erwachsene können sich artikulieren und das Problem benennen. Bei Kindern ist man auf die Eltern angewiesen. Wolle man Schlaf objektiv messen, müsse man sich von der allein elterlichen Einschätzung distanzieren", sagt Schlafforscher Gerhard Klösch von der Medizinischen Universität Wien. Während bei Erwachsenen standardisiert Magnetresonanztherapie (MRT) oder Elektroenzephalographie (EEG) gemacht werden, sind sie bei Kindern nahezu nonexistent. Dabei kann damit die Hirnreifung festgehalten werden, die mit ADHS im Vergleich zu gesunden Kindern um etwa drei Jahre verzögert ist. "ADHS ist wirklich ein multifaktorielles Ereignis, das nicht auf einzelne Marker zurückzuführen ist. Manchmal treten Fälle in Familien vermehrt auf. Auch soziale Komponenten können das Gehirn verändern", so Reinhold Kerbl, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ).

Schlafarchitektur

Dieter F. Braus, Direktor des Vitos Klinikum Rheingau und neurowissenschaftlich orientierter Psychiater und Neurologe, interessiert das Gehirn und die Schlafarchitektur seiner Klienten: "Wie viel schläft er, wann schläft er ein, wie oft wacht er auf, wie lange ist er wach." Viele ADHS-Erkrankte geben Schlafstörungen an. Doch Zappelphilipp ins Labor zu schicken, würde für ihn bedeuten, ein bis zwei Nächte mit vielen Geräten am Körper schlafen zu müssen. Bewegungen, Hirnströme, Atmung und Herztätigkeit würden erfasst. Braus setzt auf eine einfachere Anwendung mit Handgelenksmanschette. "Es entspricht beispielsweise bei der Diagnose eines Schlaf-Apnoe-Syndroms, bei dem es zu Atemaussetzern kommt, zu 89 Prozent den Auswertungen einer Polysomnografie, ohne, dass die Patienten über Nacht eingeschränkt sind", so Braus. Eine solche technische Neuerung, die Schlaf rasch und günstig auswertet, wäre für die Leitlinien prädestiniert.

Fragebogen als Klassiker

Aktuell gilt die Befragung als das Diagnosewerkzeug. "Es werden Fragebögen, sowohl an Eltern als auch an Lehrende ausgeteilt, bei denen es um drei Dimensionen geht: Konzentrationsfähigkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Diese Beobachtungen werden zunächst abgefragt. Dann stellt man aufgrund der Symptomabfrage und dem klinischen Bild eine Diagnose", sagt Christoph U. Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Charité Berlin. Sowohl bei ADHS, Schizophrenie, bipolaren Störungen oder Angst basiert die Diagnose auf Befragungen. Liegt der berechneten Score von der Altersnorm entfernt, spricht man von einem Krankheitswert. "Diagnosen werden aber immer auch in der Zusammenschau mit dem klinischen Interview erstellt", so Correll.

Für Kerbl ist die Diagnostik bis zu einem gewissen Teil eine subjektive Einschätzung: "Für den einen Lehrer rührt sich der Schüler zu viel und dem anderen macht es nichts aus. Daher sollten Lehrer gleichermaßen, wie Eltern die Fragebögen ausgehändigt bekommen. Denn leider ist die Diagnose von ADHS nicht so eindeutig wie die einer Blinddarmentzündung." Für den Kinderarzt ist der Fragebogen nur eine Hilfestellung und keine Grundlage für die Diagnose. Er beobachtet das Verhalten seiner Patienten genau: "Kann er in der halben Stunde, in der ich mich mit ihm beschäftige, ruhig sitzen oder muss er ständig etwas mit Händen und Beinen machen?"

Demokratische Prozesse

Bei leichten Symptomen passe man tägliche Rituale an. Wenn sich Kinder aufgrund der Hypermotorik verletzen, greife man zu Medikamenten. Zwar helfen Stimulanzien den Betroffenen das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden - sie kommen zur Ruhe und fokussieren sich -, gehen aber mit Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Schlafstörungen einher. Nicht-Stimulanzien fungieren ähnlich nur mit geringerer Wirkung und können, am Abend gegeben, mitunter Schlafstörungen ausgleichen.

Ob an den aktuellen Leitlinien zukünftig gerüttelt wird wie am Tischtuch von Philipps Eltern, bleibt fraglich. Für Braus ist die Leitlinie eine "Leitblanke am Straßenrand", die aus einem langwierigen "demokratischen Prozess" entsteht und Kerbl hält fest: "Bleiben Störungen undiagnostiziert, verlieren Kinder an Lebensqualität."