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Der Pflegefall als Gewaltopfer

Von Sandra Fleck

Wissen
Bettlägrige Menschen benötigen viel Zeit und Pflege - sie können dabei aber auch Gewalt erleben. Mitunter sind sie allerdings selbst die Täter.
© stock.adobe.com / Me studio

Gewalt kann subtil und strafrechtlich schwer zu ahnden sein. Ältere Menschen können sich nur begrenzt zur Wehr setzen.


Gewalt ist mehr als ein Schlag ins Gesicht und beginnt bei Personen höheren Alters oftmals sehr subtil. Führen körperliche Gebrechen in die Abhängigkeit, wird älteren Menschen oft das Recht auf selbstbestimmte und individuelle Lebensführung genommen: Meist wird die Änderung des Speise- und Getränkeplans mit gesundheitlichen Aspekten begründet, die Zimmertür aus Angst, es könne etwas passieren, verschlossen oder der Wohnungsinhalt bereinigt. Dabei hält die Europäische Menschenrechtskonvention fest, dass jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat. Wer Gewalt ausübt, bestimmt über jemanden. Das Vorenthalten von Lieblingsspeisen ist somit ein Gewaltakt. Abfällige Bemerkungen im Supermarkt, Altersdiskriminierung bei Versicherungsgeschäften oder das Einweisen in ein Alters- und Pflegeheim ohne das Einverständnis der Betroffenen sind weitere Formen der Gewalt.

Gefahren auch in der Familie

"Wird man betreuungswürdig, kommt der Wunsch zu sterben auf. Das Essen und Trinken wird eingestellt. Das Lebensende rückt sowieso näher, aber dieser Wunsch darf nicht sozial induziert sein", sagt Thomas Frühwald, Facharzt für Geriatrie und Mitglied des Beirats für Altersmedizin des Bundesministeriums für Gesundheit: "Heute sind Ernährungssonden kein Thema mehr, man fragt vielmehr, warum gibt sich der Mensch auf, und versucht, die dazu führenden Faktoren zu ändern." Spannungen scheinen in dieser unfreiwilligen Unselbstständigkeit programmiert. Das gilt für Betroffene in Institutionen gleichermaßen wie für Personen in privater Betreuung.

In gegenseitiger Schuldzuweisung werden die Täter- und Opferrollen definiert. "Bei der mobilen Pflege kommt es zum Konflikt, wenn der zu betreuende Mensch mehr Zeit beanspruchen möchte. Es lohnt sich, diese Situation vorbeugend anzusprechen: ‚Sie würden sich gerne unterhalten? Ich bin aber für die pflegerischen Maßnahmen zuständig und lade Ihre Medikamente nach. Falls Sie mit jemandem sprechen wollen, kann ich Kontakt zum Besuchsdienst herstellen‘", lautet der Lösungsansatz von Peter Stippl, Vizepräsident des Österreichischen Bundesverbands der Psychotherapie.

Im familiären Bereich ist er sich sicher, dass beide Parteien sehr reif sein müssen, um Angehörige während des körperlichen und geistigen Verfalls gut zu pflegen. "Im Gewaltschutzzentrum bemerken wir in den letzten Jahren schwerste Gewaltauswirkungen von längst erwachsenen Kindern, vorzugsweise Söhnen, gegenüber ihren betagten Eltern", sagt Annemarie Siegl, Diplomsozialarbeiterin und Mitarbeiterin im Gewaltschutzzentrum Steiermark.

Pflegende verzichten zugunsten ihrer Angehörigen über Jahre auf guten Schlaf und Urlaub. Muss der Betroffene ins Heim, fühlt er sich gestraft, weil es für ihn den letzten Platz seiner Existenz bedeutet. Beide Seiten stellen sich großen Herausforderungen.

"Die Generation, die jetzt alt ist, hat es in der Regel nicht gelernt, sich selbst zu artikulieren, Gefühle darzustellen und sich wahrzunehmen", sagt Leopold Ginner vom Verein für das Alter in Österreich Pro Senectute. Anliegen der Organisation es ist, Bedingungen für ein lebenswertes Altern zu schaffen. Ginner und seine Kollegen sind werktags für verunsicherte, vernachlässigte oder bedrohte Menschen über das Beratungstelefon erreichbar. "Es geht darum, die Angestellte in einem Pflegeheim zu unterstützen, wenn sie Zeugin von Gewalt wird. Betroffene, die ein gewisses kognitives Potenzial haben und die Nummer eigenständig finden und wählen können, zu beruhigen und Vertrauen aufzubauen. Angehörigen beizustehen, wenn sie es nicht mehr schaffen, ihren an Demenz erkrankten Partner zu pflegen", sagt Ginner.

Heikle Belastungsgrenzen

Laut Weltgesundheitsorganisation ist Gewalt an älteren Menschen als "eine einmalige oder wiederholte Handlung im Rahmen einer Vertrauensbeziehung oder um die Unterlassung geeigneter Maßnahmen, die älteren Menschen Schaden oder Leid zufügt" definiert. Die Tat kann überall erfolgen, wo ältere Menschen leben: Sei es in den eigenen vier Wänden, in der Öffentlichkeit, in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Tageseinrichtungen. Gewalt reicht von der Einschränkung der Selbstbestimmung bis hin zum Mord und ist für alle Beteiligten eine Gratwanderung zwischen Beeinträchtigung und Rechtsfall.

"In Deutschland wird jeder Fall, der an die Polizei gerät, rechtlich verfolgt. In Österreich müssen die Betroffenen Hilfe suchen, entweder im Krankenhaus oder im niedergelassenen Bereich. Jedoch sprechen sie nicht darüber, da die Scham zu groß ist oder sie Angst vor den Betreuern haben oder sie die Gewalthandlung nicht als solche einschätzen", sagt Andrea Berzlanovich, forensische Gerontologin an der Medizinischen Universität Wien. Neben den Betroffenen brauchen laut Ginner auch die Pflegekräfte Kulturtechniken, die sie befähigen, sich einerseits abzugrenzen und andererseits einzulassen. In den professionellen Ausbildungen seien diese nur wenig verankert. "Es braucht ein hohes Maß an Reflexionsmöglichkeit und Entlastung. Daher sehe ich die 24-Stunden-Pflege sehr problematisch. In diesem Bereich wird die Belastbarkeit von Menschen außer Kraft gesetzt", meint Siegl.

Während Pro Senectute präventiv arbeitet, ist Berzlanovich primär vor Ort, wenn eine Gewalttat bereits passiert ist. "Die Quelle unseres Verständnisses von Gewalt ist das Strafgesetzbuch. Alles, was dort nicht vorkommt, ist keine Gewalt. Das ist aber auch nicht zu banalisieren. Das Strafgesetzbuch entwickelt sich mit der Sensibilisierung der Gesellschaft immer weiter. Beispielsweise ist sexuelle Belästigung oder Vernachlässigung bereits eine Straftat", sagt Marion Egger, Juristin und Mitarbeiterin im Gewaltschutzzentrum Steiermark. Mord wird in Österreich mit einer Freiheitsstraße von mindestens zehn Jahren bestraft. Die Aufgabe der Gerichtsmedizinerin ist es, zu bestimmen, ob es sich um Fremdeinwirken gehandelt hat oder um Selbstmord.

Zahlreiche Gewaltsituationen resultieren aus Überforderung. Daher empfiehlt Berzlanovich, Hausärzten Auffälligkeiten schriftlich sowie nach Einwilligung fotografisch zu dokumentieren. Eine "ausgerutschte Hand" könne mehrfach für Verletzungen sorgen.

Das Opfer als Täter

Aber nicht nur, dass gegenüber pflegebedürftigen Menschen Gewalt ausgeübt wird, auch diese können gegenüber den Pflegenden gewalttätig werden. Das kann sich im harmlosesten Fall durch das Nachwerfen der Kaffeetasse zeigen oder auch durch sexuelle Übergriffigkeit. Letzteres kommt vermehrt bei Demenzerkrankten vor. Diese verlieren durch Plaque-Einlagerungen allmählich ihre geistigen Fähigkeiten wie Orientierung, Gedächtnis und Persönlichkeit. "Demenz ist nicht gleich Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist mit asozialem Verhalten und Aggressionslust vergesellschaftet", sagt Frühwald. Erkrankte neigen dazu, sexuell übergriffig werden, Diebstahl zu begehen und die Körperpflege zu vernachlässigen.

Es zeigt sich, dass Gewalt im Alter viele Facetten hat und negative Folgen - die jedoch abgeschwächt werden, wenn man die Betroffenen aus ihrer Isolation holt und wieder am Leben teilhaben lässt.