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Karotten-Extrakt statt Antibiotika

Von Wolfgang Kappler

Wissen

Erlanger und Wiener Forscher haben gemeinsam "das Rad neu erfunden". Ihnen gelang der wissenschaftliche Nachweis, warum bestimmte Inhaltsstoffe von Karotten, Äpfeln, Heidel- und Preiselbeeren Durchfälle bereits nach zwei Tagen zum Abklingen bringen und warum sie vielen Antibiotika überlegen sind und diese teilweise ersetzen können.


Noch vor hundert Jahren starben in Münchener Kinderheimen rund 95 Prozent der an Durchfall erkrankten Kinder. Sie verloren infolge von Infektionen zu schnell und zu viel Wasser und Mineralsalze, weil es an Mitteln fehlte, die Erreger zu bremsen. Die tragische Situation besserte sich schlagartig mit der Einführung einer speziellen Karottensuppe, mit der der Ordinarius der Heidelberger Kinderklinik, Prof. Ernst Moro, 1908 gute Erfolge bei der Bekämpfung der Diarrhö erzielte. Seither gehört die Moro'sche Karottensuppe zum Standardrepertoire von Kinderärzten bei der Akutbehandlung des Durchfalls.

Das Wirkprinzip indes blieb bislang verborgen. Erst jetzt haben der Leiter der Erlanger Universitätskinderklinik, Prof. Dr. Josef Peter Guggenbichler und der Wiener Pharmakologe Prof. Johann Jurenitsch diesen Mechanismus nach fast 20-jähriger Forschung entschlüsselt.

Durchfall entsteht, wenn Bakterien oder Viren (z.B. Coli-Bakterien, Salmonellen oder Rotaviren) den Darm besiedeln und bestimmte Giftstoffe freisetzen. Voraussetzung ist, dass sich der Erreger zuvor an das Organ anheftet. "E-Coli Bakterien beispielsweise sind harmlos, wenn sie das nicht können", sagt Guggenbichler und weist darauf hin, dass dieses als Adhärenz (Anhaftung) bezeichnete Phänomen erst seit wenigen Jahren bekannt ist.

Damit die Bakterien an bestimmten Oberflächenstrukturen (Rezeptoren) der Darmwand andocken können, bedienen sie sich einiger weniger Kohlehydrate als Haftmoleküle. Erst dann verschleudern sie ihre krankmachenden Substanzen, gegen die die Medizin häufig die "große Keule" schwingt: Antibiotika.

Neben der Resistenzbildung haben diese einen weiteren Nachteil. Da sie meist nicht zielgerichtet wirken, lähmen sie auch für die Darmflora wichtige Keime. Durch das Ungleichgewicht kommt es zu Nebenwirkungen. Ferner können auch Teile der medikamentös aufgespaltenen Bakterien noch krank machen.

Im pharmazeutischen Kampf gegen die Erreger gibt es drei Möglichkeiten. Ein Weg führt über die Neutralisierung der Giftstoffe. "Das funktioniert aber nicht, weil es einfach zu viele gibt", behauptet Guggenbichler. Auch der Einsatz von Antikörpern gegen Bakterien sei unbefriedigend, weil viele von ihnen nicht säurebeständig sind und von den Verdauungssäften zersetzt werden.

Muttermilch

Bleibt noch die Möglichkeit, die Anbindung der Bakterien zu verhindern. In der Natur kommen ähnliche Kohlehydrate vor, wie sie von den Bakterien zu diesem Zweck benutzt werden. Ein Beispiel ist die Muttermilch, die den Säugling nicht nur ernährt, sondern ihn auch vor Infektionen schützt. Bestimmte darin enthaltene Zuckermoleküle, sogenannte Di- und Trisaccharide, besetzen die gleichen Rezeptoren wie die Bakterien. "Sie sind aber nur sehr schwer und mit großem Aufwand herzustellen. Außerdem weiß man nicht, ob sie tatsächlich passen, weil sie mindestens zwei Andockstellen besetzen müssen", sagt der Erlanger Professor.

Säureblockade

In dieser Situation besannen sich die Wissenschaftler auf die altbewährten Hausmittel Apfel, Karotte, Heidel- und Preiselbeere. Aus über 100 in Frage kommenden Inhaltsstoffen fanden sie letztlich das wirksamste Kohlehydrat. Es sind sogenannte, Oligogalakturonsäuren, die den von den Bakterien angesteuerten GAL-1-4-Gal-Rezeptor besetzen können.

Diese Säuren können bereits in Konzentrationen von lediglich 0,005 Prozent Bakterien in ihrer Haftung vollständig blockieren. Da der Wirkstoff Nahrungsmittelcharakter hat, sei er chemisch-synthetischen Verbindungen überlegen.In der Nutztierhaltung werden viele Antibiotika eingesetzt, beispielsweise, um Massendurchfälle zu vermeiden. Bei Schweinen konnten wir zeigen, dass unser Kohlehydrat die Durchfallrate auf zwölf Prozent senkte, und damit dem Antibiotika deutlich überlegen war", meldet Guggenbichler erste Erfolge.

Auch in der Tierhaltung

Antibiotika lassen Tiere auch - was erwünscht ist - bis zu 30 Prozent schneller wachsen. Auch dieser Effekt lässt sich mit dem Karotteninhaltsstoff erzielen, weshalb der Erlanger Mediziner behauptet: "Wir können Antibiotika in der Tierzucht ersetzen und damit letztlich auch die Resistenzproblematik abschwächen." Denn der Antibiotikaeinsatz in der Tierzucht trägt dazu bei, dass Erreger gegen Medikamente resistent werden. Der Extrakt bewährte sich auch in der Behandlung von Eierstockentzündungen bei Hühnern, die rascher abklangen.

Mit den Karotten-Inhaltsstoffen ließe sich auch die durchschnittliche Durchfalldauer bei Kindern von vier bis sieben Tagen auf 28 Stunden reduzieren. Deshalb denken Guggenbichler und Jurenitsch daran, den Karottenextrakt der Babynahrung beizumischen, damit er vorbeugend wirken kann.

Auch sondenernährte alte Menschen und Intensivpatienten könnten von einer solchen Beimengung profitieren, da ihre Darmflora durch eingeschleppte Keime häufig aus dem Gleichgewicht gerät. Der Extrakt würde dies normalisieren.

Würden denn aufgrund der Erkenntnisse nicht zwei Äpfel und zwei Karotten am Tag ausreichen, um Durchfällen vorzubeugen? "Nein, denn erst die Aufspaltung der Moleküle macht sie aktiv. Das erklärt ebenfalls die Wirksamkeit der Karottensuppe, bei der die in Frage kommenden Moleküle durch das lange Kochen gespalten werden", erläutert Guggenbichler.

Da dem Extrakt zwischenzeitlich ein lebensmittelähnlicher Charakter bescheinigt wurde, bedarf es keines langwierigen Zulassungsverfahrens. Einer baldigen Verbreitung steht damit nichts mehr im Weg.

Suppenrezept

Rezept für die Moro'sche Karottensuppe: 500 Gramm geschälte Karotten in einem Liter Wasser 1 bis 1 1/2 Stunden kochen, durchsieben oder im Mixer pürieren. Die Gesamtmenge auf einen Liter mit Wasser auffüllen. Drei Gramm Kochsalz (ein knapp gestrichener Teelöffel) hinzufügen. Fertig. Technik hat die Herstellung aber vereinfacht. Gegenwärtig wird die wirksame Reinsubstanz durch einen Fermentationsprozess gewonnen.