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Warum Menschen ungern streiten

Von Eva Stanzl

Wissen
Wer glaubt, dass das Paar sich gerne anbrüllt, irrt: Menschen sind lieber füreinander da.
© © © John Rensten/Corbis

Carel van Schaik: | "Gier entspricht nicht | der menschlichen Inklination." | Wie es unseren Vorfahren gelang, den Globus zu erobern.


"Wiener Zeitung":Beim Forum Alpbach vertraten Sie die These, dass Menschen von Natur her altruistisch seien. Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeugt vom Gegenteil. Wie passt das zusammen?Carel van Schaik: Wenn wir nicht zumindest teilweise altruistisch veranlagt wären, würde sich die Welt wohl einzig und allein nach Gesetzen wie jenen der Wall Street richten. Doch das tut sie nicht. Menschliche Individuen bilden eine Gesellschaft, die von einer Neigung zum Altruismus durchaus abhängig ist.

Dennoch haben wir aus gewissen Institutionen den Altruismus entfernt, mit dem Ziel, Profit zu maximieren anstatt zu teilen. Diese Institutionen handeln wie Menschen ohne Gewissen. Dass das nicht der richtige Weg sein kann, merkt man daran, dass er Spannungen in der Gesellschaft erzeugt. Wenn wir uns ausschließlich rund um diese Systeme organisieren würden, würde die Gesellschaft zugrunde gehen.

Sind wir mit einem Sinn für Fairness geboren?

Absolut. Man sieht das schon sehr früh im Leben, etwa ab dem Alter von drei bis sechs Monaten. Kinder teilen schon, bevor die Umwelt sie prägt, also bevor sie verinnerlichen, was sie erleben.

Welche biologischen Wurzeln hat der angeborene Gerechtigkeitssinn?

Das Jäger- und Sammlertum ist seit zwei Millionen Jahren ein Vorbild. Jäger und Sammler lebten in Gruppen oder Horden und zogen ihre Kinder in Sippen auf. Wer seine Beute nicht teilte, wurde nicht versorgt, wenn er verletzt war. Egoistische Menschen haben also langfristig keine Überlebenschancen. Gegenseitige Abhängigkeit ist der Schlüssel zur menschlichen Psyche. Für die Evolution wäre es zu riskant gewesen, diese Anlage nicht einzubauen. Loyalität, ein Sinn für Gerechtigkeit und die spontane Bereitschaft, zu teilen, sind zentrale Veranlagungen, die alle Menschen gemeinsam haben.

Vieles davon läuft übrigens im Unterbewusstsein ab. So verhalten wir uns besonders emphatisch, hilfsbereit und großzügig, wenn wir glauben, dass andere uns beobachten. Nehmen wir eine betriebsinterne Kaffeemaschine: Neben ihr steht ein Sparschwein, in das man freiwillig Kaffeegeld einwerfen kann. Jede Woche hängt ein anderes Bild über der Maschine. Ist es ein Blumen-Motiv, liegt gegen Ende der Woche nur wenig Geld im Sparschwein. Zeigt das Bild hingegen Gesichter, die einen anschauen - viel mehr Geld. Als wir jedoch die Testpersonen fragten, warum sie so gehandelt hatten, konnten sie es nicht sagen.

Je komplexer das globale Zusammenleben, desto großer die Abhängigkeit, könnte man meinen. Warum hat es jedoch den Anschein, dass wir egoistischer werden?

Die Gesellschaft ist größer und anonymer. Je anonymer wir sind, desto weniger kümmert uns unser Ruf. Und während Jäger und Sammler zwischen Gruppenmitgliedern und Fremden unterschieden, vermischen sich bei uns die Gruppen - jeder gehört irgendwie dazu. Es gibt also zahlreiche Versuchungen, sich nicht wie Jäger und Sammler zu verhalten - deswegen haben wir auch die Bestrafung institutionalisiert. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Jäger und Sammler im Paradies gelebt und weder gestohlen noch gelogen haben. Aber wir unterliegen heute dem Irrglauben, uns nicht um den Ausgleich kümmern zu müssen. Die Gier ist ein Maß für das Gute geworden. Das führt zu einer kognitiven Abweichung unseres Verhaltens von unseren instinktiven Neigungen. Die kulturelle Evolution scheint ein Benehmen zu favorisieren, das nicht der menschlichen Inklination entspricht.

Die meisten Arten haben Züge des Teilens. Was unterscheidet in dieser Hinsicht den Menschen vom Tier?

Die Art der Anpassung hängt vom Lebensstil ab. Jede Art hat ihre funktional gesteuerten Merkmale, wobei es Auflagen gibt: Jede Art wäre gerne klug, aber nicht jede Art hat ein großes Gehirn. Der Altruismus evolviert also innerhalb von Beschränkungen.

Auch Menschenaffen teilen Nahrung und pflegen Freundschaften. Was machen wir anders?

Wenn wir Altruismus als "nettes Benehmen" definieren, sehen wir auch unter Menschenaffen und anderen Tieren Freundschaften, Austausch und ein Verhalten, das den einen etwas kostet und dem anderen nutzt. Auch Menschenaffen kooperieren und teilen - allerdings nicht mit Artgenossen, mit denen sie nicht verwandt oder bekannt sind und schon gar nicht mit Fremden. Überhaupt machen die meisten Tiere das nur, wenn die Handlung in Freundschaften oder Verwandtschaften eingebettet und somit das Risiko klein ist, nichts zurückzubekommen.

Menschen hingegen sind in der Regel nett zu allen. Unser Standard-Modus ist: Wir sind nett. Somit können wir besser in Gruppen zusammenarbeiten mit einem gemeinsamen Ziel. Und wir haben das Bedürfnis, zu geben, es macht uns glücklich. Zum Beispiel fühlen wir uns gut, wenn wir Blut spenden, obwohl wir nicht wissen, wer es bekommt. Einem Schimpansen käme so etwas nicht in den Sinn. Und während viele Tiere nur bedürftigen Artgenossen helfen, geben Menschen auch spontan. Diese Form ist einzigartig. So radikal haben wir uns vom Menschenaffen abgespalten und mit der kulturellen Evolution sogar eine neue Form des Evolutionsprozesses erfunden.

Sind wir die einzige Art, die zu kultureller Evolution fähig ist?

Fähigkeiten und Innovationen, die mit dem Genom nicht direkt etwas zu tun haben, sondern als gesellschaftliches Gut weitergegeben werden, gibt es in der Tierwelt auch. Jedoch kennt die Tierwelt weniger akkumulative Vielfalt, bei der gelernte Fähigkeiten immer komplexer werden und sich das Repertoire ständig erweitert. Bei den Menschen ist das losgegangen wie ein Feuerwerk.

Was hat das Feuerwerk entzündet?

Wir begannen vor etwa zwei Millionen Jahren mit der Gruppenaufzucht in Sippschaften. Vater und Mutter, Großeltern, Geschwister, Onkeln, Tanten, Verwandte, Freunde und die ganze Gemeinschaft beteiligten sich an der Aufzucht der Kinder. Seit es diese erweiterte mütterliche Pflege gibt, sind unsere Gehirne enorm gewachsen. Wir haben gelernt, unser Wissen die nächste Generation zu lehren: Dadurch können die Jungen alles, was die Alten sich beigebracht haben, schneller. Wir wollen die zunehmend komplexen Innovationen teilen, Sprache kommt ins Spiel - ein wahrhaft altruistisches Instrument. Tiere etwa haben nur imperative Information: "Schau, wie stark ich bin, gib mir etwas." Menschen können auch deklarativ kommunizieren: "Das Wetter sieht gut aus, wir könnten morgen jagen gehen, die Rehe wären dann wohl auf der Lichtung." All das baut auf kulturell weiter-evolvierten Altruismus auf.

Angesichts dieser Kooperationsbereitschaft - warum gibt es immer mehr alleinerziehende Mütter und immer weniger Kinder?

Weil Frauen entscheiden können, ob sie mit dem Vater ihrer Kinder leben wollen, und weil sie sich selbst erhalten können. Vergessen wird dabei allerdings, dass wir soziale Wesen sind, denen Unterstützung sehr wichtig ist. Alleinerziehende Mütter neigen eher zu Depression als andere, selbst wenn es ihnen nicht an Geld fehlt. Arten, die Gruppenaufzucht betreiben, haben eine Veranlagung ihre Kinder auszusetzen, wenn ihnen die Helfer fehlen, oder erst gar keine zu bekommen. Manchmal töten sie sogar ihre eigenen Babys. Abtreibung oder Kindesweglegung ist jedenfalls häufiger bei Teenagern ohne soziale Unterstützung. Auch sind wir eher geneigt, unsere Kinder zu vernachlässigen, wenn uns niemand bei der Aufzucht hilft. Sind diese Menschen schuldig oder nicht? Auf jeden Fall scheinen wir eine biologische Disposition dafür zu haben.