"Wiener Zeitung":

Die dunkle Seite der Macht: Kinder werden nicht böse geboren, sagt Joachim Bauer - nicht einmal in diesem Werbespot mit der Mini-Ausgabe von Darth Vader. - © Abdruck fuer Pressezwecke honora
Die dunkle Seite der Macht: Kinder werden nicht böse geboren, sagt Joachim Bauer - nicht einmal in diesem Werbespot mit der Mini-Ausgabe von Darth Vader. - © Abdruck fuer Pressezwecke honora
Herr Bauer, in den 70ern hat man versucht, böses Verhalten, Gewalttaten durch traumatische Kindheiten und schwere Benachteiligung zu erklären. Heute will man - wie der englische Premierminister Cameron nach den juvenilen Ausschreitungen - das Böse eindämmen, die Jugendlichen wegsperren und mehr Polizei auf die Straße schicken.

Joachim Bauer: Für das gewaltfreie Zusammenleben von Menschen müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Erstens sollte jeder Mensch in seiner Kindheit und Jugend die Erfahrung gemacht haben, dass er (oder sie) von seinen (ihren) Eltern geliebt wird. Zweitens sollte jeder Mensch bereits in jungen Jahren von seinen Eltern und sonstigen Erziehern angehalten worden sein, die Regeln des sozialen Zusammenlebens zu beachten. Und drittens sollten wir überall, wo Menschen miteinander leben oder arbeiten, darauf achten, dass wir Ausgrenzungen und Demütigungen vermeiden. Ausschreitungen wie jene in England sind dadurch verursacht, dass man sich in vielen westlichen Ländern seit Jahren in allen drei Bereichen schwere Versäumnisse geleistet hat.

Das Böse, schreibt Eugen Sorgs in seinem Buch "Die Lust am Bösen", sei ein "Erbe animalischer Reflexe, nicht heilbar und nicht umerziehbar." Was sagt die Hirnforschung dazu?

Das ist - jedenfalls aus Sicht der Hirnforschung - schlichtweg Unsinn. Schon Charles Darwin hätte das als Unsinn bezeichnet. Die Evolution hat den Menschen im Laufe von einigen Millionen Jahren mit einem "social brain" ausgestattet, also mit einem auf gutes soziales Zusammenleben ausgerichteten Gehirn. Für Darwin waren die sozialen Instinkte die stärksten menschlichen Triebe. Wären wir von einer animalischen "Lust am Bösen" beseelt, hätten wir als Spezies nicht überlebt. Kämpfen und morden können andere viel besser als wir. Das evolutionäre Erfolgsticket des Menschen basierte auf Kooperation und Intelligenz. Beides hängt übrigens eng zusammen.

Sie schreiben in Ihrem jüngsten Buch "Schmerzgrenze", der Aggressionstrieb habe sich als der große Flop der Psychoanalyse erwiesen. Wie begründen Sie dann die alltägliche Gewalt?

Der neurobiologische Aggressionsapparat des Menschen besteht aus zwei Komponenten: Auf der einen Seite haben wir die Dampfkessel-Komponente, den sogenannten "Bottom-up Drive", wo Wut und Hass entstehen. Der Dampfkessel wird allerdings immer nur dann aktiv, wenn Menschen entweder mit körperlichem Schmerz gequält werden, oder wenn man Menschen demütigt. Weil soziale Ausgrenzung und Demütigung die Schmerzsysteme des Gehirns genau so reizt wie körperlicher Schmerz, führt beides zu Aggression. Die zweite Komponente des Aggressionsapparates in unserem Gehirn ist das moralische Kontrollzentrum, die sogenannte "Top-down Control". Das sind Nervenzell-Netzwerke, die ihren Sitz in unserer Stirn haben. Diese Netzwerke speichern Informationen darüber, wie sich das, was wir tun, für andere anfühlt. Bei Menschen, die Gewaltexzesse ausüben, sind meistens beide Teile des Aggressionsapparates gestört: Die Dampfkessel-Komponente ist zu stark gereizt, gleichzeitig hat das moralische Kontrollzentrum eine Funktionsstörung.



Das heißt, bei Gewalterfahrungen und Demütigungen kann es sein, dass solche Menschen keine Empathie mehr empfinden können.

Ja, das kommt leider recht häufig vor. Eine der wichtigsten Botschaften der modernen Neurobiologie ist: Alles, was wir erleben, sehen und tun, hat Einfluss auf unser Gehirn. Bei Menschen, die viel Gewalt erleben - oder die in Videospielen Gewalt einüben -, kommt es zu Veränderungen in Nervenzell-Netzwerken, vor allem in Netzwerken unseres Stirnhirns. Die Folge ist, dass die Fähigkeit mitzufühlen und halbwegs moralisch zu handeln, verloren gehen kann. Studien zeigen, dass Psychopathen wie der Attentäter Anders Behring Breivik in Norwegen massive Funktionsstörungen ihres Gehirns aufweisen. Breivik hatte einen sehr verhängnisvollen Lebenslauf, er hat zudem jahrelang intensiv Killerspiele gespielt und stand bei seiner Tat unter aggressionsfördernden Drogen.

Wie verheerend die Folgen von Vernachlässigung und schwerer Gewalt an Kindern sind, zeigen Sie in Ihren Büchern auf. Wäre es da nicht dringlich geboten, dass Kinder schon früh den liebevollen Umgang miteinander lernen?

Ja, natürlich. Aber nochmals: Liebevolle Zuwendung ist nur die eine Seite der Erziehung. Die andere Seite ist, dass wir Kinder anhalten, die Regeln des sozialen Miteinanders zu lernen, beim Spielen, beim miteinander Essen, beim Aufräumen, beim Aushalten von sinnvollem Verzicht und bei allem anderen, was den Alltag so ausmacht. Ein zentrales Problem sehe ich darin, dass viele Eltern aufgehört haben, ihre Kinder zu erziehen und eine Laissez-faire-Pädagogik praktizieren. Die Folgen sind katastrophal. Kinder und Jugendliche brauchen zweierlei: erstens liebevolle Zuwendung, und zweitens klare Regeln, wie das soziale Miteinander funktioniert. Die Erziehung zur Frustrationstoleranz und zur Einhaltung von Regeln muss im dritten Lebensjahr beginnen.