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Vom Stammbaum zum Stammbusch

Von Roland Knauer

Wissen

Frühmensch hatte ein kleines Gehirn, aber eine Werkzeugmacher-Hand. | Weiterentwicklung viel komplexer, als man sich das bisher vorstellte.


Berlin. "Das ist ein fantastischer Fund", meint der Frühmenschenforscher Ottmar Kullmer vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main. Nur 40 Kilometer von der heutigen Stadt Johannesburg in Südafrika entfernt war eine Gruppe von Frühmenschen vor recht genau 1,977 Millionen Jahren in die Malapa-Höhle gestürzt. Bald danach versteinerten ihre Überreste im Sediment eines Höhlensees. "Forscher können dann gut feststellen, welche Knochen zu einem bestimmten Individuum gehören", erklärt Kullmer. Genau aus diesem Grund stellt die Zeitschrift "Science" diesen Fund jetzt in einer Serie von fünf Artikeln vor (Band 333).

Am 15. August 2008 hatte Lee Berger von der Universität von Witwatersrand in Johannesburg diese Fossilien gemeinsam mit seinem Sohn Matthew und seinem Mitarbeiter Job Kibii entdeckt. Von mindestens fünf Individuen entdeckten die Forscher bisher Überreste. Von zwei dieser Frühmenschen namens Australopithecus sediba haben Forscher aus verschiedenen Weltregionen jetzt einen Schädel und die Beckenknochen sowie die Knochen eines Fußes und einer Hand genau unter die Lupe genommen.

Bei jedem dieser Skelett-Teile fanden sie ein verblüffendes Mosaik aus Neu und Alt: In einigen Bereichen erinnerte jedes Teil verblüffend an unsere frühen Vorfahren, die vor ein paar Millionen Jahren noch im Kronendach des Regenwaldes lebten und dann den Boden der Savanne als neuen Lebensraum entdeckten. Andere Teile dagegen sind zwar ein wenig kleiner, lassen sich sonst aber kaum von den entsprechenden Knochen eines Menschen unterscheiden, der im 21. Jahrhundert durch Mitteleuropa läuft.

So erinnert das Volumen des Gehirns eines jugendlichen Australopithecus sediba mit 420 Millilitern verblüffend an ein 400-Milliliter-Schimpansen-Denkorgan. Beim modernen Menschen verteilen sich dagegen die grauen Zellen auf rund 1400 Milliliter. Andererseits fanden Kris Carlson von der Universität von Witwatersrand und seine Kollegen mittels europäischer Röntgentechnik von ESRF im französischen Grenoble im Stirnbereich des Schädels extrem feine Strukturen, die für moderne Menschen typisch sind, nicht aber für Schimpansen.

Diese Mischung aus Neu und Alt zeigt sich besonders deutlich an der Hand der vielleicht 30-jährigen Australopithecus-sediba-Frau, deren Knochen die Kanadierin Tracy Kivell vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig analysiert hat. Die Knochen zeigen der Spezialistin, dass dieses Individuum Äste ähnlich wie ein Schimpanse kräftig umklammern konnte. "Mit dieser Hand konnte die Australopithecus-sediba-Frau sehr gut in Bäumen klettern", erklärt Tracy Kivell. Anderseits sind die Fingerknochen von Australopithecus sediba ziemlich gerade, beim Schimpansen dagegen leicht gekrümmt und deutlich länger.

Und der Daumen der Frühmenschenfrau ist viel länger als bei einem durch die Bäume hangelnden Menschenaffen. "Er ist sogar länger als der Daumen eines modernen Menschen", wundert sich Tracy Kivell. Mit dieser Kombination aus relativ kurzen und geraden Fingern und einem langen, sehr beweglichen Daumen aber klappt der sogenannte "Präzisionsgriff" viel besser als mit einer Hand im Schimpansen-Design: "Mit einem langen Daumen und kurzen Fingern lässt sich ein Glas oder ein Ei sicher zwischen den Fingerspitzen halten, ohne es zu zerbrechen oder fallen zu lassen", berichtet Tracy Kivell weiter.

Mit diesem Präzisionsgriff kann man feine Instrumente bedienen und einen Schlüssel im Schloss drehen. Wer einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger geschickt hält, kann so auch Buchstaben schreiben oder schöne Zeichnungen machen.

Diese Entwicklung der Hand war nach Meinung aller Frühmenschenforscher ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen. An Australopithecus sediba verblüfft die Mischung aus althergebrachten Eigenschaften wie dem kräftigen Klammergriff eines Baumwipfel-Akrobaten in Kombination mit einer Werkzeugmacher-Hand: "Hätte man die Knochen dieser Hand einzeln und über eine größere Fläche verstreut gefunden, hätte man sicher angenommen, die Fossilien zweier unterschiedlicher Arten vor sich zu haben", meint Tracy Kivell. Hätte etwa ein Säbelzahntiger, dessen Überreste ebenfalls in der Malapa-Höhle gefunden wurden, den Leichnam eines Frühmenschen gefunden und seine Knochen in alle Winde verstreut, so wäre das Mosaik aus modernen und althergebrachten Eigenschaften in einer Hand vielleicht nie erkannt worden.

Tracy Kivell fiel auf: "Die Hand von Australopithecus sediba konnte offensichtlich viel besser einfache Steinwerkzeuge herstellen als die Hand von Homo habilis." "Homo habilis" bezieht sich auf einige Handknochen und primitive Steinwerkzeuge, die man in der Olduvai-Schlucht im Norden Tansanias gefunden hat.

Nahe und weitere Verwandte

Da Werkzeuggebrauch als entscheidender Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen gilt, wurde der zur gleichen Zeit lebende Homo habilis zu den nächsten Verwandten des modernen Menschen Homo sapiens gezählt, während ein Australopithecus mit kleinerem Gehirn und anderen "Affen-ähnlichen" Eigenschaften nur zur weiteren Verwandtschaft gehört. Steinwerkzeuge wurden allerdings bereits vor 2,6 Millionen Jahren und damit 600.000 Jahre früher benutzt. Auch aus dieser Epoche gibt es mit dem Homo rudolfensis einen geeigneten Werkzeugmacher-Menschen, von dem bisher aber noch kein Handknochen identifiziert wurde.

Die geschickte Werkzeugmacher-Hand des Australopithecus sediba bringt nun den gesamten Stammbaum des Menschen ins Wanken. "Die Entwicklung bis zum modernen Menschen war also viel komplexer, als wir uns das früher vorgestellt haben", erklärt Senckenberg-Forscher Ottmar Kullmer. "Aus dem Stammbaum des Menschen ist daher schon längst ein Stammbusch mit vielen Ästen geworden, von denen viele für die Entwicklung bis zum Homo sapiens wichtig waren."