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Ein wichtiges Hoffnungsgebiet für die Medizin der Zukunft

Von Heiner Boberski

Wissen

Die Heilungswunder von morgen beginnen in den Laboratorien von heute.


Wien. Der erste klinische Test mit embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) in Europa ist Realität geworden. Die britische Gesundheitsbehörde "Medicines and Healthcare products Regulatory Agency" hat im September grünes Licht dafür gegeben, wie das amerikanische Biotechnologieunternehmen ACT (Advanced Cell Technology) bekanntgab. An der Londoner Moorfield’s Augenklinik erhalten zwölf Patienten, die an der unheilbaren Augenkrankheit Morbus Stargardt leiden, ES-Zellen in den Augapfel verpflanzt.

Von Morbus Stargardt sind in Europa und in den USA zwischen 80.000 und 100.000 Menschen betroffen. Diese Erkrankung der Netzhaut kann bei Jugendlichen zur völligen Erblindung führen. Mit den Ergebnissen bisheriger Versuche an einzelnen Patienten in den USA sei man "sehr zufrieden", erklärte der leitende ACT-Forscher Bob Lanza. Tests mit Ratten und Mäusen hätten bei diesen Tieren zu einer stark verbesserten, ja sogar fast normalen Sehfähigkeit geführt.

Auf der Forschung mit Stammzellen ruhen enorme Hoffnungen für die Zukunft der Medizin. Schon seit über vier Jahrzehnten setzt man blutbildende Stammzellen des Knochenmarks in der Behandlung von Leukämie und von Lymphomen ein. Vor einer Chemotherapie werden dem Knochenmark des Patienten oder eines geeigneten Spenders Stammzellen entnommen und nach der Chemotherapie zur Blutbildung und Abwehr von Infektionen wieder injiziert. Die nächsten großen Fortschritte erhofft man sich bei der Behandlung von Parkinson, Alzheimer, Herzinfarkten und Diabetes. Dazu ist es nötig, dass Stammzellen zu ganz bestimmten Zelltypen, etwa Nervenzellen, Herzmuskelzellen oder Pankreas-Inselzellen, ausreifen.

Trend zu pluripotenten Zellen

Der Begriff Stammzellen umfasst Körperzellen, die sich in verschiedene Zelltypen oder Gewebe ausdifferenzieren können, manche in jede Art von Gewebe (die pluripotenten Stammzellen), manche nur in bestimmte Gewebetypen (die multipotenten Stammzellen). Nach der Herkunft unterscheidet man embryonale Stammzellen und adulte Stammzellen, je nachdem, ob sie von einem Embryo oder von einem geborenen Menschen stammen. Auch aus dem Fruchtwasser und aus der Nabelschnur können Stammzellen gewonnen werden.

Ein großer Teil der Forschung tendiert stark zu den pluripotenten Stammzellen, die derzeit in erster Linie aus ES-Zellen gewonnen werden. Die nur multipotenten adulten Stammzellen besitzen deutlich weniger Selbsterneuerungsvermögen und Differenzierungspotential als ES-Zellen, wie sie 1981 erstmals aus Blastozysten der Maus isoliert werden konnten. Seit 1998 wird auch mit humanen ES-Zellen gearbeitet.

2006 berichteten Forscher aus Japan erstmals darüber, dass es gelungen sei, aus adulten Stammzellen künstlich Stammzellen mit den Eigenschaften embryonaler Stammzellen zu reprogrammieren. Aus dieser dritten Stammzellengruppe, den "induzierten pluripotenten Stammzellen" (iPS), konnten bereits Herzmuskel- und Nervenzellen gezüchtet werden. Die für die iPS-Gewinnung zunächst eingesetzten vier Gene brachten freilich ein Krebsrisiko mit sich, inzwischen kommen manche Forscher aber bereits ohne diese Gene aus.

US-Forschern um Sheng Ding am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifornien) soll es im Versuch mit Mäusen bereits gelungen sein, Hautzellen direkt in schlagende Herzzellen umzuwandeln. Im Sommer 2011 gelang mit Hilfe von iPS einem Team des deutschen Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster die Heilung einer Stoffwechselkrankheit der Leber bei Mäusen.

Die Forschung mit ES-Zellen stößt nicht nur auf Zustimmung und wird unter Bioethikern seit Jahren kontrovers diskutiert, was mit unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Lebensanfang zu tun hat. Vor allem die römisch-katholische Kirche, aber auch andere religiöse Gemeinschaften lehnen die für die Gewinnung von ES-Zellen unvermeidliche Zerstörung von Embryonen ab, da für sie bereits mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle menschliches Leben beginnt und geschützt gehört.

Relativ breiter Konsens besteht darüber, dass spätestens mit der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter ein neuer Mensch beginnt. Allerdings wird von etlichen Forschern auch die Position vertreten, dass menschliches Leben erst dann wirklich als schützenswerte Person betrachtet werden könne, wenn das zentrale Nervensystem ausgebildet beziehungsweise ein Schmerzempfinden vorhanden sei.

Unterschiedliche Gesetze

Je nachdem, welche Weltanschauung in einem Land dominant ist, sehen dann die gesetzlichen Regelungen sehr unterschiedlich aus. Am liberalsten ist man in Ostasien oder in den USA, wo Präsident Barack Obama gegen Widerstände die Forschung an embryonalen Stammzellen auch staatlich fördert. In Großbritannien dürfen Embryonen bereits nur zu Forschungszwecken erzeugt werden, in anderen Ländern dagegen lediglich zu Fortpflanzungszwecken, in der Schweiz darf dann mit überzähligen Embryonen, die nicht mehr zur Fortpflanzung verwendet werden, geforscht werden, in Polen wird die Zerstörung eines Embryos mit einer Abtreibung gleichgesetzt und bestraft.

In Österreich dürfen ES-Zellen nicht erzeugt, aber importiert und in der Folge theoretisch auch zur Forschung verwendet werden. In der Österreichischen Bioethik-Kommission, die gerade ihr 10-jähriges Bestehen feierte und - wieder mit Christiane Druml als Vorsitzender - für eine neue Periode bestellt wurde, tritt die Mehrheit dafür ein, diese Forschung offiziell freizugeben und entsprechend gesetzlich zu regeln.
Die zur spontanen Differenzierung neigenden ES-Zellen sind nicht nur bioethisch umstritten, sie sind auch deswegen bisher allenfalls für klinische Tests an Menschen erprobt worden, weil sie Tumorbildungen und Abstoßungsreaktionen - wie bei anderen Transplantaten - auslösen können, was sich auch in Tierversuchen gezeigt hat. Auch beim Einsatz von iPS bei Tieren traten Tumore auf, während adulte Stammzellen in dieser Hinsicht als unbedenklich gelten.

Vor klinischen Versuchen muss daher sichergestellt sein, dass die Transplantate keine undifferenzierten humanen ES-Zellen - aus denen noch alle Zellarten, auch Krebszellen, entstehen können -mehr enthalten. Zumindest in Tierversuchen konnte bereits Morbus Parkinson unter Nutzung differenzierter humaner ES-Zellen behandelt werden. Gleichzeitig wird aber auch eifrig mit adulten und induzierten pluripotenten Stammzellen weitergeforscht, möglicherweise führen je nach Krankheitsbild unterschiedliche Methoden zu Erfolgen.

Wie rasch und mit Hilfe welcher Methode der Stammzellengewinnung sich die Hoffnungen auf wirksame Therapien erfüllen, werden erst die nächsten Jahre weisen. Die Gefahr, mit Biotechnologie aus Geschäftemacherei an sich gesunde Menschen noch perfektionieren zu wollen, statt in erster Linie den leidenden Menschen zu helfen, ist wie bei allen neueren Entwicklungen auch hier nicht zu übersehen.