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Sag mir, wo die Werte sind

Von Heiner Boberski

Wissen

Die Antipathie gegenüber Migranten ist in Westeuropa in Österreich am größten.


"Die Jugend hat kein Ideal, kan Sinn für wahre Werte. Den jungen Leuten geht’s zu guat, sie kennen keine Härte." Diese Zeilen legte der österreichische Liedermacher Wolfgang Ambros 1974 in seinem Song "Zwickt’s mi" nicht gerade vorbildlichen Vertretern der damaligen älteren Generation in den Mund. Der Vorwurf an jeweils andere Bevölkerungsgruppen, sie hätten nicht die richtigen Werte, wurde vermutlich zu allen Zeiten erhoben. In der Geschichte beruhten Gesellschaften aber häufig deshalb einigermaßen auf den gleichen Werten, weil eine klare hierarchische Ordnung bestand, in der man Andersdenkende in der Minderheit hielt und notfalls gewaltsam bekämpfte. Welche Werte hochzuhalten waren, wurde von der Obrigkeit vorgegeben.

Wer bestimmt in der modernen Welt die Werte? Liegen sie in einem mühsam zusammengewachsenen Europa auf einer Linie?

Im Jahr 1978 konstituierte sich auf Initiative von Jan Kerkhofs (Universität Leuven, Belgien) und Ruud de Moor (Universität Tilburg, Niederlande) die European Value Systems Study Group, die zwischen 1981 und 1983 in den zwölf Ländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft die erste Europäische Wertestudie (EVS) durchführte. Mit Ende 2010 wurde bereits die vierte derartige Untersuchung abgeschlossen, für die man in 47 Ländern fast 68.000 repräsentative Personen, darunter 1500 aus Österreich, befragt hat. Die EVS ist heute ein professionell organisiertes Forschungsunternehmen, das die Universität Tilburg koordiniert.

Werte sind nicht identisch mit ethischen Normen

In Österreich, das erstmals an der zweiten Studie (1990) teilnahm, gab die Pastoraltheologin Regina Polak vom Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien kürzlich den Band "Zukunft. Werte. Europa - Die Europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich" (Böhlau Verlag) heraus. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erläuterte sie, dass es zu kurz greift, Werte mit ethischen Normen zu identifizieren, sie seien vielmehr "die Grundlagen für ethische Entscheidungen".

Polak gefällt besonders die Werte-Definition des deutschen Soziologen Hans Joas: "Werte sind mental-psychisch verinnerlichte Erfahrungen der Selbsttranszendenz und Selbstbildung, in deren Rahmen Menschen von Lebenswirklichkeiten, die ihnen widerfahren, so ergriffen werden, dass sie sich diese zu eigen machen." Und sie verweist auf den österreichischen Philosophen Clemens Sedmak, der Werte als "hochgradig emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte" und "relativ generelle und dauerhafte Bewertungskriterien" bezeichnet hat. Die Europa-Wertestudie hat vor allem die Einstellungen zu Religion, Familie, Politik, Arbeit, Migration und Freizeit in vielen Facetten abgefragt.

Da Werte "ganz tief mit existenziellen Fragen zu tun haben", so Polak, sind Menschen meist so stark von ihnen geprägt, dass es schwer sei, mit moralischen Appellen hier etwas verändern zu wollen. Für den einen seien Begriffe, wie sie in der Wertestudie abgefragt wurden, attraktive Werte, "es können aber auch Korruption oder Uniformität für jemanden Werte sein, wie ja auch in der NS-Zeit Dinge als Werte identifiziert wurden, die es, wenn man sie einer ethischen Reflexion unterzieht, im Grunde nicht sind".
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Verbindliche Werte müssen auf drei Ebenen bestehen

Wie kommt nun eine Gesellschaft zu gemeinsamen Werten? "Das Schlüsselwort ist Kommunikation", betont Regina Polak, "sie ist das Um und Auf zur Wertebildung in einer pluralistischen Gesellschaft." Hans Joas habe hier auf ein Dreieck verwiesen, das die Ebene der unmittelbaren Alltagsevidenz (es muss für die Leute nachvollziehbar sein, warum etwas gut ist), die institutionelle Ebene (Institutionen können Werte - zum Beispiel eine Schule den Wert Kooperation - vorgeben) und die gesetzliche Ebene (Förderung oder Bestrafung) umfasst. Polak: "Alle drei Ebenen sind nötig. Es nützt zum Beispiel nichts, wenn man per Gesetz Fremdenfeindlichkeit verbietet, aber die Erfahrungen und Verhaltensweisen in den Institutionen und im Alltag völlig anders sind."

Hat Europa gemeinsame Werte? "Der für mich auffälligste Befund der Studie war, wie heterogen die europäischen Länder sind", sagt Regina Polak. Die Resultate dieser - nicht nur in EU-Ländern erhobenen - Studie zeigten oft große Brüche mit den im Artikel 2 des Lissabon-Vertrags folgendermaßen formulierten EU-Werten: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich die Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

Stabile starke Werte in Westeuropa sind aus Polaks Sicht Demokratie und Familie, Religion sei in manchen Ländern noch hoch im Kurs, aber kein gemeinsamer europäischer Wert mehr. Langzeitvergleiche und genaueres Hinschauen lassen einen Wertewandel erkennen: "Familie hat einen großen Wert, aber junge Leute leben oft ganz anders. Bei der Religion gibt es, beginnend mit den Jahrgängen ab 1948, einen tiefen Einbruch gegenüber früher."

Europa-Identifikation ist bedenklich niedrig

"Im politischen Bereich sieht Polak "große Transformationsprozesse". Der Wunsch nach mehr Partizipation, die Unzufriedenheit mit den politischen Leistungen seien signifikant, ebenso das Faktum, das sich viele Leute schwer tun, mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenzuleben. Hier fällt Österreich besonders auf, es liegt bei der Antipathie gegenüber Migranten in Westeuropa an der Spitze. Die Österreicher, so Polak, seien politisch sogar überdurchschnittlich interessiert, aber auch "mehr enttäuscht und frustriert von der realen Politik". Bedenklich findet sie, dass Österreich bei der Bejahung der Frage "Können Sie sich einen Führer statt eines gewählten Parlaments vorstellen?" sehr stark zugelegt hat.

Von einem "Rechtsruck" in Europa will Polak nicht sprechen, sie sei sich nicht sicher, ob solche Kriterien noch taugen, auch "linke Werte" wie mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Gleichberechtigung der Geschlechter seien sehr gefragt. Als Sozialwissenschafterin nimmt sie alle Werte nüchtern zu Kenntnis, als Theologin und Philosophin unterzieht sie die Werte freilich schon einer eigenen Bewertung. Sie sieht die Studie auch als "Anlass, Bildungspolitik zu betreiben, insbesondere zu xenophoben Einstellungen".

"Als Theologin, die politisch denkt", plädiert Polak dafür, dass sich ein europäisches Bewusstsein entwickelt. "Nur als geeintes Europa in Verschiedenheit werden wir unserer geopolitischen Verantwortung gerecht. Leben in Pluralität wäre ein großes Erbe." Eine über Toleranz, die oft mit Beliebigkeit verwechselt werde, hinausgehende "Pluralitätskompetenz", die mit Vielfalt umgehen könne, Unterschiede als Bereicherung sehe und allfällige Konflikte gewaltfrei austrage, sei "die elementare Zukunftskompetenz, die unsere Gesellschaft braucht".

Aus der Studie gehe eine bedenklich niedrige Europa-Identifikation in den einzelnen Ländern hervor: "Die wenigsten Menschen in Europa fühlen sich zunächst als Europäer - am ehesten noch die Luxemburger -, sondern als Österreicher, Polen, Schweden und so weiter." Regina Polak sieht "dringenden Handlungsbedarf" und betont: "Die Schwierigkeiten, die wir von der Umwelt- bis zur Finanzpolitik haben, kann man nicht national lösen. Es wäre unverantwortlich, die provinzlerische Vorstellung zu unterstützen, wir könnten hier unser eigenes Süppchen kochen."